Social Media September
von Berit Glanz
18.9.2018

Rhetorik des Hashtags

Wenn Twitter-Hashtags den Weg in die Printmedien finden, dann meistens im Kontext von Auseinandersetzungen mit der politischen Schlagkraft aktivistischer Hashtags. Von dem mit dem Grimme-Preis bedachten #aufschrei über #metwo, #metoo und den kürzlich kontrovers diskutierten Hashtag #menaretrash: Gemeinsam ist ihnen das Sammeln von Erfahrungen und Erlebnissen, die in den dominierenden Narrativen der Mehrheitsgesellschaft noch nicht oder nur wenig reflektiert wurden. 

Das Doppelkreuz #, auch Rautezeichen genannt, hat so mit der Verwendung als Hashtag in den Sozialen Medien zwar erhebliches emanzipatives Potential gewonnen, doch die Verwendung von Hashtags im Internet ist noch deutlich komplexer und vielfältiger. Vor seiner Karriere in den Sozialen Medien war das Rautezeichen hauptsächlich für mathematische und technische Kontexte verwendet worden, spielte auch in einigen Programmiersprachen und bei der Anwendung bestimmter Programme eine wichtige Rolle. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren waren IRC Chats sehr populär. Dort konnte man einen bestimmten Channel, so hießen die Chaträume, betreten, indem man den Befehl „/join #KekseundKuchen“ ( nach dem Rautezeichen wurde der Name des Chatraums genannt) ausschrieb. 

Mit der Zunahme partizipativer Möglichkeiten im Internet seit der Jahrtausendwende, die unter dem recht unpräzisen Oberbegriff des Web 2.0 gefasst werden, entwickelte sich parallel eine Kultur des Tagging, das heißt der Verschlagwortung von Inhalten. Diese Form von zumeist nutzergenerierten Metadaten erleichtert unter anderem die Suche nach bestimmten Inhalten. Ein Bild mit einem kleinen Hund in einer Pfütze konnte man beispielsweise beim Bilderdienst Flickr mit den Tags „Pfütze“, „Hund“ und „Outdoor“ bezeichnen oder auf dem Netzwerk Delicious die eigenen Lesezeichensammlungen verschlagworten. 

Diese beiden initial separaten technischen Entwicklungen verknüpften sich, als am 23. August 2007 der Produktdesigner Chris Messina in einem Tweet vorschlug, Twittergruppen mit Hashtags zu markieren. Die Idee des Hashtags auf Twitter ist also auf Anwenderseite entstanden. Die Nutzer der Plattform begannen Hashtags zu verwenden, und 2009 wurde von Twitter offiziell eine Suchfunktion auf Basis der Hashtags eingerichtet. Bereits 2009 übernahm Tumblr das Prinzip der Hashtags, und auch in anderen sozialen Netzwerken, beispielsweise bei Instagram oder Pinterest, werden Hashtags verwendet. Die strukturelle Funktion dieser Hashtags unterscheidet sich teilweise von Plattform zu Plattform, daher soll in diesem Artikel der Fokus auf die Hashtagverwendung bei Twitter gerichtet werden, Beispiele für Hashtags werden dabei in Klammern gesetzt.

Hashtags bei Twitter erfüllen zunächst einmal drei Funktionen für die Anwender: 

  1. Sie bieten die Möglichkeit, pragmatisch Kategorien für die eigenen Inhalte zu benennen und Tweets einem bestimmten Themenzusammenhang zuordnen (#FrauenLesen #TwitterPhilologie #metoo). Außerdem kann der Hashtag dem Tweet eine Orts- oder Zeitangabe hinzufügen (#Italy #Christmas #RockAmRing). 
  2. Indem die Anwender ihre eigenen Inhalte präzise benennen und ihre Tweets zu einem bestimmten Thema hinzufügen, erhöhen sie auch die Sichtbarkeit eigener Tweets für andere User, die nach entsprechenden Hashtags suchen können oder die um bestimmte Hashtags kreisenden Diskussionen verfolgen. (Beispielsweise mit Hashtags, die spezifisch zu Events, Konferenzen oder anderen Ereignissen formuliert werden.) 
  3. Twitter veröffentlicht ständig aktualisierte Trends mit den am meisten verwendeten Begriffen und Hashtags. Diese Trends können nach Ländern, Regionen und Städten gefiltert werden und zeigen den Nutzern der Plattform unter anderem, welche Ereignisse aktuell stattfinden oder welche Themen eifrig diskutiert werden. Aufgrund dieser Trends hat Twitter sich den Ruf erarbeitet, die Plattform zu sein, auf der beispielsweise Katastrophenereignisse oder Terroranschläge sehr rasch mit Augenzeugenberichten versehen werden. (Kritische Auseinandersetzungen mit diesem Phänomen gibt es einige, diese Dimension soll hier jedoch nicht thematisiert werden.)

Da mittlerweile in den sogenannten „Trending Topics“ auch Wörter ohne Hashtag vorkommen, ist die Verwendung eines Hashtags vor allem dann entscheidend, wenn sich Nutzer präzise zu einer bestimmten Konversation, einem Thema, einem Ereignis zuordnen wollen. So erfüllt beispielsweise der wöchentlich vom Neo Magazin Royale vergebene Sendungs-Hashtag – es gab unter anderem #hokuskrokus, #solariumfleck, #RahmstufeTod – alle drei Funktionen: Erstens werden damit wöchentliche Folgen klar markiert, zweitens ermöglicht er die interaktive Teilnahme an der Sendung bzw. den fortlaufenden Kommentar von Zuschauern, drittens erhöht er die Sichtbarkeit der Sendung durch ein Auftauchen der Hashtags in den Trends. 

Bei einer reinen Betrachtung dieser pragmatischen Funktion der Hashtagverwendung gerät jedoch die ästhetische Funktion von Hashtags, das heißt der Gebrauch dieser als Stilmittel, in den Hintergrund. Deswegen soll im Folgenden versucht werden, eine initiale Rhetorik des Hashtags zu formulieren, angelehnt an Venkatesh Raos Überlegungen zur Rhetorik des Hyperlinks. Rao leitet seine Überlegungen zu Hyperlinks im Internet mit einem Satz ein, der sich ohne weiteres auch für die Verwendung von Hashtags weiterdenken lässt:

„The hyperlink is not a glorified electronic citation-and-library-retrieval mechanism. The ‚electronic library‘ perspective, that the hyperlink is merely a convenience that comes with the cost of amplifying distraction, is a myopic one.“[1]

Es wäre kurzsichtig, die Spezifik digitaler Phänomene nur als Variante analoger Verfahrensweisen zu sehen, Links sind eben nicht nur bibliothekarische Wissensreferenzen und Hashtags nicht nur digitale Spielweisen von Türschild oder Verschlagwortung. Hinter einer auf den ersten Blick technisch recht eindeutigen Nutzungsweise verbirgt sich semantisches und ästhetisches Potential. So zeigt Rao anhand von Beispielen, dass die Art und Weise, wie ein Link in einem Fließtext gesetzt ist und worauf verlinkt wird, ein erhebliches Bedeutungsreservoir öffnet. Je nach Setzung und Inhalt der Verlinkung kann ein Link somit die Aussage ironisch brechen, verstärken oder karikieren. Die Parallele zwischen Hyperlinks und Hashtags ist jedoch nicht nur, dass sie in ihrer spezifischen Verwendung die Kommunikation gestalten, sondern darüber hinaus die Grenzen des Mediums ausloten und dabei performativ völlig neue Rezeptionsweisen hervorbringen. 

Die Möglichkeit, durch textinterne Verlinkungen von einem Text zum nächsten zu springen, ohne zwangsläufig den Ausgangstext zu Ende zu lesen, im Lese- und Klickprozess also seinen eigenen Text hervorzubringen, setzt sich deutlich ab von einem analog geprägten linearen Leseverständnis. Das Internet kann so auch als real-weltliches Beispiel für die in post-modernen Theorien entwickelten Modelle interpretiert werden, die sich hierarchiekritisch von einer Linearität der Wissensstruktur verabschieden:

„Der nonlinearen und multimodalen Struktur des Hypertexts ist auch eine semiotische Dimension zu eigen. Dementsprechend wird der Hypertext zur Metonymie eines non-linearen, assoziativen Denkens, das subtextuell von der syntagmatischen Struktur der Buchkultur abgegrenzt wird […] Der Hypertextstruktur wird – analog zu Deleuzes und Guattaris Rhizommodell – eine semiotische Dimension verliehen, die hierarchische Herrschaftsstrukturen durch die prozessuale Konstitution von Assoziationen subversiv unterläuft.“[2]  

Diese neue Art des interaktiven nicht-linearen Lesens im Internet, eine für das Medium spezifische Rezeptionsweise, ist nach Rao essentiell mit der Möglichkeit zur Verlinkung verknüpft:

„The Web is a regular medium whose language is the hyperlink. The varieties of hyperlinking constitute the vocabulary of the Web.“[3]

Raos Überlegungen zur Rhetorik des Hyperlinks wurden im Juli 2009 veröffentlicht, also erst zwei Jahre nach der Einführung des Hashtags auf Twitter. Aus heutiger Sicht könnte man hinzufügen, dass in der folgenden Dekade Memes und Hashtags zur Sprache der Sozialen Medien geworden sind, deren verschiedene Anwendungsweisen wesentlich die Spezifik des Mediums ausmachen. 

Während für das Verständnis der im Internet entstehenden Wissens- und Rezeptionsstruktur die Deleuzsche Metapher des Rhizoms immer wieder aufgegriffen wird,[4] bieten sich für die in den Sozialen Medien produzierten Texte, dabei besonders in Bezug auf Hashtags und Memes, Überlegungen zur Intertextualität und davon inspirierte Theorien der Intermedialität an. Besonders das Phänomen der Memes, die wahlweise Bild, Ton und Text verknüpfen, wird ohne einen klar definierten Intermedialitätsbegriff kaum zu fassen sein. Interessanterweise verweist diese junge Form intermedialer Kommunikation auf eine bereits im Barock etablierte Tradition, die der Emblematik:

„Der Wechselgesang der Meme beschränkt sich nicht auf eine Ausdrucksform, er ist nicht nur auditiv oder verbal. Mem-Partikel verbinden Sätze und Klänge mit Bildern und geraten damit in die Nähe einer fast fünfhundert Jahre alten Ausdrucksform: der Embleme des 16. und 17. Jahrhunderts. Zeitgenössische neue Medien werden kombiniert zu polemischen, sinnspruchartigen Redegegenständen, die im Alltag schnell zirkulieren. Nicht undenkbar scheint es, dass die Meme der Gegenwart sich einmal wie in Emblembüchern versammelt finden – zu Memblematika.“[5]

Nicht nur die Verbindung von Inscriptio (Wahlspruch / Überschrift), Pictura (Bild des Emblems) und Subscriptio (Erklärung bzw. Kommentar zu der Verbindung von Inscriptio und Pictura) im Emblem bietet Anknüpfungspunkte barocker Ästhetik für die in den Sozialen Medien entstehenden spezifischen Verfahrensweisen an. Auch die barocke Literatur, die von der Verwendung rhetorischer Stilmittel stark geprägt ist, lässt sich für eine Betrachtung der spezifischen Literarizität von Tweets nutzbar machen. Die Orientierung des Barocks an Regelpoetiken führte zu einer entindividualisierten Schreibweise, die sich eher an stilistischen Regeln als an individuellem Ausdruck orientierte. Der Beitrag einzelner Autoren ordnete sich durch das Befolgen von normativ gesetzten Stilregeln in einen größeren kollektiven Zusammenhang ein, der entscheidend für die Rezeption war. Von den aus der römischen Rhetoriktheorie übernommenen fünf Stadien der Redeerzeugung interessierte also besonders die „elocutio“, die sich der Ausgestaltung und Schmückung der Gedanken in Worte widmet. In diesen Bereich fallen die rhetorischen Stilmittel, also die zahlreichen Varianten einer ästhetischen Ausgestaltung von Sprache, welche die Barockliteratur stark prägen. Die Parallele zu Tweets,[6] oder insgesamt den internettypischen kleinen Formen, wie sie Christiane Frohmann und Holger Schulze nennen, ist offensichtlich, denn auch dort spielen repetitive Muster, eine mit ausgesprochenem Bewusstsein für Ästhetik durchgeführte Sprachverwendung und regelhaft verwendete Stilmittel eine Rolle. 

Bereits auf Ebene der sprachlichen Gestaltung vieler Tweets lassen sich eine Vielzahl rhetorischer Figuren nachweisen, doch besonders an der Verwendung von Hashtags lässt sich die, auf einer für Twitter spezifischen regelpoetischen Verfahrensweise basierende, Entindividualisierung exemplarisch zeigen. Die Digitalisierung verändert Kommunikationsgewohnheiten, das bedeutet Formen der Sprachverwendung in den Sozialen Medien verdienen nicht nur eine genauere Auseinandersetzung aus medienwissenschaftlicher, linguistischer oder soziologischer Perspektive, sondern auch das ästhetische Potential dieser noch relativ jungen Gattung sollte aufmerksam betrachtet werden. Hierzu könnten ausdifferenzierte Überlegungen und Untersuchungen zur Rhetorik des Hashtags einen entscheidenden Beitrag leisten. Es soll hier jedoch nicht behauptet werden, dass der Hashtag für das literarische Potential von Tweets eine notwendige Bedingung ist, vielmehr geht es darum, dass am Beispiel des Hashtags einige Spezifika des Mediums herausgearbeitet werden können.

Im Gegensatz zu Memes operieren Hashtags nicht mit intermedialen Strukturen, sondern sind in ihrer Funktionsweise intertextuell. Neben der bereits beschriebenen pragmatischen Nutzung und der denotativen Bedeutung der jeweiligen als Hashtag verwendeten Begriffe muss auch untersucht werden, in welche intertextuellen Strukturen sich die Hashtags einschreiben. Wie es bereits für die Auseinandersetzung mit rhetorischen Stilmitteln in der Literaturwissenschaft etabliert ist, kann einerseits deren abstrakte Funktionsweise beschrieben und andererseits die intertextuelle Struktur dekonstruiert werden, in die sich konkrete rhetorische Figuren eines literarischen Textes einordnen. Eine Rhetorik des Hashtags muss also, um die den Hashtags eigene Ästhetik und Bedeutungserzeugung zu erschließen, immer auch den komplexeren Kommunikationszusammenhang betrachten.  

Im Folgenden soll anhand eines Beispiels versucht werden, spezifische Stilmittel der Hashtagverwendung herauszuarbeiten, in dem Bewusstsein, dass die Vielfalt der Verwendungsweisen deutlich komplexer ist.   

Auch wenn es ein Allgemeinplatz ist, dass der Witz verschwindet, sobald man ihn erklärt, möchte ich versuchen, die Verwendung des Hashtags #blessed im Kontext dieses Tweets zu analysieren. Der Hashtag #blessed („gesegnet“) ist aus dem englischen Sprachraum übernommen. Sowohl in der initialen englischen Verwendung als auch in der deutschsprachigen Übernahme wurde und wird er oft benutzt, wenn Situationen als Segen geschildert werden, weil beispielsweise Unfälle vermieden oder Naturschönheit wahrgenommen wurde, es einen unvermittelten Lichtblick in traurigen Momenten gab oder eine Reflexion des eigenen Glücks stattfindet:

Diese Tweets sind oft eher emotional gehalten, teilweise sogar appellativ und sie können besonders bei religiöser Konnotation einen missionarischen Charakter bekommen. Als ironische Brechung dieser Nutzung des Hashtags #blessed werden in Folge beispielsweise profane Schilderungen aus dem Alltag, wie in dem oben angeführten Beispiel, Obszönitäten oder Schilderungen von eher unglücklichen Situationen mit dem Hashtag #blessed versehen:

Eine Dopplung der Ironie findet dann statt, wenn der Inhalt des Tweets zusätzlich noch den sprachlichen Gestus von Tweets mit unironischer Verwendung des Hashtags imitiert:

Natürlich wird einem die Ironie der Tweets auch durch die übersetzte Wortbedeutung von #blessed klar, Voraussetzung dafür ist, dass der Leser in seiner Rezeption versteht, dass der Hashtag dem Bedeutungsinhalt des Tweets widersprechen oder ihn kommentieren kann, hier also eine Kommunikation auf zwei Ebenen stattfindet. Diese Rezeptionsprozesse, die sich beispielsweise auch am Verhältnis von Bild und Text im Comic untersuchen lassen, laufen zumeist nicht bewusst reflektiert ab. Um das vollständige semantische Bedeutungsfeld des Hashtags #blessed zu verstehen, das sich aus der Wiederholung dieses Verwendungsmusters ergibt, muss der Leser aufgrund seiner Rezeptionserfahrung das Muster unironischer #blessed Tweets abrufen können. Oder er muss auf den Hashtag klicken, um sich einen Überblick über die Bandbreite der Verwendung zu verschaffen, damit er so den Tweet in das Verwendungsmuster einordnen kann. 

Eine über das Soziale Netzwerk Twitter hinausweisende Bedeutungsdimension erhält der Hashtag für Nutzer, die auch mit der Hashtagverwendung der Plattform Instagram und speziell dem dort gehäuft auftretenden Influencer-Marketing bekannt sind. Bei Instagram werden Hashtags, die visuelle Inhalte markieren oder Emotionszustände beschreiben sollen (#Natur #Sunshine #Lebenslust #ZeitFürMich #Wanderlust), oft verwendet, um Bilder zu markieren, die eine Werbefunktion erfüllen, oder um die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen. Diese Hashtagnutzung auf Instagram wird wiederum auf Twitter parodiert: 

Bereits anhand dieses Beispiels lässt sich erkennen, dass die Bedeutung von Hashtags auf mehreren Ebenen gebildet wird, dass also für das Verständnis des Sprachspiels komplexe Rezeptionsmuster abgerufen werden müssen. Diese Kommunikation folgt diffizilen Regelstrukturen, deren Unkenntnis durch Nutzer zu unfreiwilliger Komik führen kann, wenn beispielsweise Hashtags auf Twitter wie auf Instagram gehäuft an den Inhalt angehängt (#berlin #kunst #museumsinsel #inspiration #KunstIstToll) oder wahllose Worte im Tweet mit Hashtags versehen werden („Einblick in unser #Marketing bei dem #Event im #September“), da eben diese Verwendung von Hashtags eine Unkenntnis der subtileren Kommunikationsspielregeln des Mediums aufzeigt. 

Folgt man dem mittlerweile zu einem medienwissenschaftlichen Allgemeinplatz gewordenen Ausspruch McLuhans, dass das Medium die Botschaft ist, dann lassen sich aus der Hashtagverwendung Rückschlüsse über die Veränderungen der Kommunikation und spezifischer der ästhetischen Sprachverwendung durch die Plattform Twitter schließen. Wie anhand des Beispiels aufgezeigt wurde, tendiert die Verwendung von Hashtags zu einer Entindividualisierung, da jede Einzeläußerung auch in einem größeren kommunikativen Zusammenhang eingeordnet werden kann. Um sich also der Bedeutungsentstehung von Tweets und ihrem literarischen Potential anzunähern, könnte man Überlegungen zur Intertextualität bzw. Dialogizität von Michail Bachtin und Julia Kristeva heranziehen. Ohne Zweifel ist in den letzten zehn Jahren eine neue Form des (literarischen) Schreibens entstanden, das entindividualisierter ist als beispielsweise der Roman oder andere Formen moderner Literatur. Dieses aus kollektiven Zusammenhängen entstehende Schreiben enthält eine Dimension von Vielstimmigkeit, die wiederum neue Formen des Lesens produziert. Zusätzlich zeigt sich die spezifische Schreibweise auf Twitter als von starker Regel- und Musterhaftigkeit geprägt, die einer weiteren Untersuchung bedürfen. Diese produktionsästhetischen Verhältnisse haben Auswirkungen auf die Rezeptionsprozesse. Inwieweit dafür neben Theorien zur Intertextualität und Intermedialität auch literaturhistorisches Wissen zu barocker Ästhetik fruchtbar gemacht werden könnte, wäre ein spannendes Versuchsfeld.

 

Anmerkungen

[1] Venkatesh Rao: The Rhetoric of the Hyperlink (01.07.2009), in: https://www.ribbonfarm.com/2009/07/01/the-rhetoric-of-the-hyperlink/

[2] David Kergel: Kulturen des Digitalen. Postmoderne Medienbildung, subversive Diversität und neoliberale Subjektivierung. Wiesbaden, 2018. S. 81

[3] Venkatesh Rao: The Rhetoric of the Hyperlink (01.07.2009), in: https://www.ribbonfarm.com/2009/07/01/the-rhetoric-of-the-hyperlink/

[4] Zur Verwendung dieser Metapher gibt es auch Kritik, beispielsweise von Aaron Hess, 2008.

[5] Schulze, 2017. S. 62.

[6]Tweets und andere internetspezifische Schreibweisen werden sowohl von Christiane Frohmann als auch Holger Schulze als kleine Formen bezeichnet und an die literarische Tradition von Aphorismen angeknüpft, jedoch von Frohmann außerdem um die produktionsästhetische Dimension des instantanen Schreibens erweitert. Siehe:  Frohmann, 2016 und Schulze, 2016.

 

Quellen

Christiane Frohman: “Vorwort”. In: Claudia Vamvas: Sitze im Bus. Berlin, 2016.

Aaron Hess: “Reconsidering the Rhizome: A Textual Analysis of Web Search Engines as Gatekeepers of the Internet”. In: Amanda Spink, Michael Zimmer (Hg.): Web Search. Multidisciplinary Perpectives. Berlin, Heidelberg. 2008. S. 35-50.

David Kergel: Kulturen des Digitalen. Postmoderne Medienbildung, subversive Diversität und neoliberale Subjektivierung. Wiesbaden, 2018

Lexi Pandell: AN ORAL HISTORY OF THE #HASHTAG, in: https://www.wired.com/2017/05/oral-history-hashtag/ 

Venkatesh Rao: The Rhetoric of the Hyperlink (01.07.2009), in: https://www.ribbonfarm.com/2009/07/01/the-rhetoric-of-the-hyperlink/

Andreas Sandre: Twitter didn’t invent the hashtag… Chris Messina did!, in: https://hackernoon.com/twitter-didnt-invent-the-hashtag-chris-messina-did-1020969abfcd

Holger Schulze: “Trinken gehen, Bus fahren. E-Books und kleine Formen.” In Merkur. Januar, 2016, 70. Jahrgang, Heft 800. S. 71-78.

Holger Schulze: “Klangkolumne: Widerstand” In: Merkur. September, 2017, 71. Jahrgang, Heft 820. S. 57-64.

 

Berit Glanz ist Autorin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Skandinavische Literaturen der Universität Greifswald.