»Gilmore Girls« – Das Ende der Erzählung
von Maren Lickhardt
24.10.2016

Serie und Narration

Um den Beitrag nicht mit dem abgedroschenen Superlativ ‚längster Cliffhanger aller Zeiten‘ zu beginnen – eine Formulierung, die ohnehin leicht falsifizierbar wäre –, sei moderat darauf verwiesen, dass es lange gedauert hat, bis es nun – fast zehn Jahre nach dem Ende der alten Staffeln – mit den Gilmore Girls weitergeht. Am 25. November startet auf Netflix die Fortsetzung Gilmore Girls. A Year in the Life, die schon gemäß dem Titel mit (post-)moderner Fragmentarität und Serialität spielt.

Eine zeitliche Begrenzung wird vorgegeben, die recht kontingent anmutet. Statt das Leben oder einen konsistenten Sinnabschnitt im Leben zu präsentieren, wird eben ein Jahr gewählt, und es bleibt zu vermuten, dass – im Falle des Erfolgs der Neuauflage – Another Year in the Life angeschlossen werden wird.

Ein Schlaglicht oder mehrere hintereinander sind zu erwarten, was traditionelle Vorstellungen vom Erzählen als linearen Prozess mit einer inneren Intelligibilität einmal mehr zurück lässt. Natürlich ist in der Fiktion alles möglich, d.h. es ließen sich leicht Wege finden, ein Jahr gewissermaßen organisch abzurunden, aber es könnte noch leichter als Bruchstück belassen werden und nach dem Prinzip von Schema und Variation in Serie gehen.

Um einen Cliffhanger handelt es sich beim Schluss der alten Serie allerdings ohnehin nicht, denn es gab im Grunde keine offenen Enden, die einen wirklich unruhig zurückgelassen haben. Die Serie hatte mit Rory Gilmores Eintritt in die Arbeitswelt eigentlich einen runden Abschluss, und auch die anderen Handlungsstränge schienen abgeschlossen. Dass Lorelai Gilmore und Luke Danes zusammenfinden würden, dürfte für niemanden eine Überraschung gewesen sein, und kaum jemandes Phantasie ist wohl in die Richtung durchgegangen, eine baldige Trennung und neue Verwerfungen zu imaginieren oder gar zum wiederholten Male Christopher Hayden ins Spiel zu bringen. Aber zehn Jahre später darf man nun gespannt sein, denn dauerhafte Harmonie gönnt man Serienfiguren nur nach dem Ende. Wenn es aber wieder anfängt, muss es mit der Harmonie vorbei sein.

Lorelai hat eingewilligt, ihre Eltern weiterhin zu besuchen, und auch bei dieser Figurenkonstellation war außer der Fortsetzung der alten Hassliebe sicher wenig Raum für Entwicklungen. Da Edward Hermann, der Darsteller des Vaters und Großvaters Richard Gilmore, im Jahr 2014 verstorben ist, könnte es allerdings zwischen Mutter und Tochter nun noch einmal richtig interessant werden, denn dass die Tatsache, dass Emily nun als Witwe auf sich selbst zurück geworfen ist, eine gewisse – sagen wir – Dynamik produzieren wird, ist doch zu erwarten.

Rory Gilmore – um nun zum wichtigsten zu kommen – zieht als Single in die Welt, um sie als Journalistin zu erobern. An ihrem zukünftigen beruflichen Erfolg dürfte niemand gezweifelt haben.[1] Der ein oder andere hat sich möglicherweise eine Versöhnung mit Logan Huntzberger oder vielleicht sogar Jess Mariano vorgestellt. Aber man konnte sie eigentlich getrost auch ohne diese hypothetischen Revivals alter Beziehungen in den imaginären Raum entlassen, und sich damit begnügen, dass sich irgendwann schon irgendwer für die 22jährige finden wird.

Da es aber nun ein Revival der Serie gibt, war es ganz sicher keine Überraschung, dass Logan und Jess wieder in irgendeiner Form im Spiel sein würden, denn irgendwo muss man ja Fäden wieder aufgreifen. Die Darsteller Matt Czuchry und Milo Ventimiglia stehen auf imbd.com auf der Cast List,[2] was unweigerlich die Vorstellung evoziert, dass einer der beiden nun das Rennen machen wird, aber um schlichte Erwartungen wie solche zu befriedigen, war die Serie eigentlich immer zu intelligent. Wir müssen abwarten, auf welche Weise unsere durch die spärlichen Informationen zur Neuauflage angeregten Vermutungen hintergangen werden.

Jared Padalecki, der Darsteller von Rorys erster Liebe Dean Forester, erscheint laut imbd.com nur in einer der neuen Folgen, was sicher kein Verlust ist, – ähm, liegt der Plot doch einfach schon zu weit zurück. Dass sein Erscheinen nur kurz sein wird, ist das eigentlich Interessante. Unabhängig von der Frage, wie der Plot nun weitergeht, handelt es sich bei der Neuauflage schließlich um ein Projekt, das auf die Nostalgie der früheren Fans setzen muss. Man möchte die – mehr oder weniger – liebgewonnen Charaktere einfach einmal wieder sehen, und da reicht ja eigentlich ein Kurzauftritt mit Update von Dean als Collage oder Zitat seiner selbst – ‚Figuren-dropping‘, weil Wiedererkennen und Wiedersehen allein um seiner selbst willen so schön ist.

Dass Figuren um ihrer selbst willen einfach nur da sind und keine interessanten Handlungsstränge tragen, war in besonderem Maß ein Merkmal der Gilmore Girls. Da hätten wir die dicke Sookie St. James, die sich im Lauf der Serie wenig entwickelt, sondern konstant für liebevolle und tollpatschige Momente zur Verfügung steht, aber irgendwann Jackson heiratet und dann gewissermaßen im Serienformat Kinder produziert. Oder aber Kirk Gleason, die Figur mit dem größten Kultpotential, die durch pikareskes Unverständnis und als Anlass fürs Fremdschämen immer wieder für Verblüffung sorgt und neben ihrer festen Charakteristik und Funktion durch ihre wandelnden absurden Tätigkeiten der Homer Simpson der Gilmore Girls ist, also die Episodität und Nicht-Linearität der Serie spiegelt. Skurril ist auch Bürgermeister Taylor Doose, der auf die immer gleichen Kommentare zum kommunalen Geschehen und auf seine Leidenschaft zur durchaus kommerziell ausgebeuteten Heimat- und Geschichtspflege festgelegt ist und der permanent Winzigkeiten auf hysterisch-theatralische Weise aufbauscht.

Es handelt sich um Figuren, die geschaffen sind für das Serielle, die keiner Narration bedürfen oder innerhalb einer solchen Linie gewissermaßen Punkte erzeugen, und irgendwie spiegeln sie das auch reflexiv und metafiktional durch ihre Merkmale: serielle Reproduktion, episodische Tätigkeiten und Hyperbolik, durch die sich nämlich ständig alles und gleichzeitig nichts ändert, große Unterschiede entstehen mit geringen Auswirkungen und Relevanz auf das Folgende. Gleichzeitig repräsentieren diese Figuren wiedererkennbare Stereotype, d.h. als Klischees sind sie bei ihrem ersten Auftritt ohnehin immer schon Zitate gewesen. In jeder realen Kleinstadt gibt es sie und möglicherweise noch nicht einmal in weniger drastischen Ausformungen.

Der misslaunige französische Concierge Michel Gerard sei last but not least erwähnt, dessen fast konstant schlechte Laune und Aversion gegenüber so ziemlich allem und jedem, vor allem aber gegen Hotelgäste, Kinder und gute Laune, für – es ist eine Tautologie, aber es muss so betont werden – erwartbarste Running Gags im positiven Sinn des Wortes sorgt. Erstaunlich ist dann, was er mag: seine strenge Diät, Tanzen, Celine Dion, seine Chow Chows und seine oberflächliche Beziehung zu seiner Mutter. In ca. 140 Folgen erfährt man nicht mehr als das, obwohl gerade letzteres Stoff für unendliche psychologische Narrativierungen lieferte, aber der Reiz der Figur besteht gerade darin, dass dies ausbleibt, dass sie statisch in die Serie eingelassen ist mit festgelegten Charakteristika und Funktionen. Laut Medienberichten soll dies ein Ende haben und die Figur in der Neuauflage näher durchleuchtet werden.[3] Hoffentlich nicht, denn ich möchte gar nicht wissen, ob Michel nun als schwul oder hetero ausgewiesen wird.

Denkt man nach fast zehn Jahren an die Gilmore Girls zurück, sind es eben diese Kleinstadtcharaktere und andere Merkwürdigkeiten, die ins Gedächtnis kommen. Die Narration rückt dagegen in den Hintergrund. Sogar die Figuren, die jene tragen oder durch jene entwickelt werden, repräsentieren Typen und prägen vielleicht eher durch Marotten, isolierte Handlungen und Dialoge die Erinnerung. Was war nun noch mal der Plot?

Da hätten wir die Liebe in allen Variationen, und es sei dezidiert behauptet, dass sie für die Serie so gut wie irrelevant ist und ganz sicher kaum zu ihrem Erfolg beigetragen hat, obwohl sie sie in gewisser Weise strukturiert. Dass mit wechselnden Figuren und wechselnden Verhältnissen Männer und Frauen Beziehungen eingehen und beenden und die Sympathien der Zusehenden hinsichtlich der Konstellationen unterschiedlich ausfallen, ist auch schon alles, was man zum Thema Liebe in der Serie sagen kann. Man verliebt sich eben in den falschen oder den richtigen Mann; nähert sich an; es entsteht eine kleine Spannung auf Basis der Frage, ob dies auf Gegensätzlichkeit basiert, und wenn ja, wann es zum ersten Kuss kommt; dann plätschert die Beziehung entweder vor sich hin oder wird problematisch; sie wird aber in jedem Fall beendet; und der nächste Mann oder die nächste Frau erscheint auf der Bildfläche. Wie in einer Soap.

Nun ist gegen Soaps nichts einzuwenden, aber damit allein wäre Gilmore Girls nicht beschrieben. Denn bei den Handlungsbögen, die die Liebe generiert, also der Liebes-Narration, ist die Zweck-Mittel-Relation recht artifiziell umgekehrt. Charaktere, Handlungsweisen und Dialoge stehen nicht im Dienste der Ausgestaltung der Liebes-Plots, sondern diese sind als Vorwand da, um Charaktere, Handlungsweisen und Dialoge in Szene zu setzen, um ihnen Anlass und Geltung zu verschaffen. Die Narration rückt in den Hintergrund, um ganz andere, punktuelle Elemente zu tragen. Ein bisschen tiefer geht vielleicht die Geschichte zwischen Lorelai und Christopher, die partiell durch Rory und Logan gespiegelt wird, aber dies führt bereits aus dem Liebes-Thema heraus zum eigentlichen großen Thema der Serie, um das sich das größte Narrativ rankt, was dann aber noch lange nicht mit einer traditionellen Narration einher geht:

White Anglo Saxon Protestants! In einem Familienepos über drei Generationen wird die amerikanische Ostküsten-Pseudo-Aristokratie gezeigt. Die äußerst wohlhabenden, alteingesessenen Gilmores – Yalies seit vielen Generationen, Mitglied im Golf-Club, im Country-Club, bei den Daughters of the American Revolution usw. usf. – erleben eine genealogische und axiologische Erschütterung.

Lorelai Leigh Gilmore, die Mittlere, also Tochter und Mutter zugleich, war, wie in Analepsen berichtet wird, im Alter von 16 Jahren ungeplant schwanger geworden, konnte also weder Schule noch Debütantinnenbälle weiterhin pflichtgemäß absolvieren, wollte den bei allem Schock als angemessen angesehenen Vater des Kindes, Christopher Hayden, nicht heiraten, verließ das Elternhaus, um das Kind, Lorelai ‚Rory‘ Gilmore – ja, Lorelai geht in Serie –, jenseits aller Konventionen und finanzieller Unterstützung in der Kleinstadt Stars Hollow aufzuziehen. Die Träume der Eltern, sich angemessen zu reproduzieren, waren zerplatzt, das Ansehen beschmutzt, während Lorelai selbstständig – das kann man nun nicht anders als ein wenig ironisch anmerken – den amerikanischen Traum vom Zimmermädchen zur Hotelmanagerin lebte, sie die Herzen der Kleinstädter gewann und eine äußerst intelligente, liebeswerte Tochter, sozusagen ihre beste Freundin und in gewisser Weise Abbild hervorgebracht hat.

Die Serie setzt ein, als Rory ihrerseits 16 Jahre alt ist und sich Mutter und Tochter einig sind, dass sie nun eine teure Privatschule, die Chilton High, besuchen soll. Obwohl Lorelai erfolgreich bemüht ist, ihrer Tochter alternative Werte zu vermitteln, zeigt es sich, dass sie nicht alles abgelehnt hat, wofür ihre Eltern stehen, denn Elite-Bildung ist der Punkt, den sie nicht hinterfragt, und dann ist Elitenbildung ja auch nicht mehr weit. Den Auftakt der Serie bildet ein Bescheid über ein abgelehntes Stipendium, wodurch Lorelai wieder Kontakt zu ihren Eltern aufnimmt, die Rorys Schulbildung finanzieren sollen und wollen.

Den Rahmen für fast jede Folge bildet nun ein Besuch bei den Eltern/Großeltern, den diese dafür erpressen. Die Freitage wiederholen sich im Folgenden wieder und wieder. Und es entspannt sich eine interessante Milieustudie. Während im Naturalismus die soziale Determiniertheit des Menschen gerade an niedrigeren Milieus ausgelotet wurde, widmet sich dieses Verfahren hier der anderen Seite, d.h. mit naturalistisch ist nicht der Modus der Darstellung gemeint – die Serie ist vielmehr hochgradig artifiziell, intertextuell und metafiktional –, sondern ein Ausloten von persönlichen Befangenheiten, milieubedingten Sichtweisen und begrenzten Handlungsmöglichkeiten innerhalb eines engen Erfahrungsspektrums, das an einen naturalistischen Monismus denken lässt.[4]

Emily und Richard – das lehrt die Serie – sind, wie sie sind. Sie können nichts dafür! Sie sind weder in ihren persönlichen Beziehungen noch in ihrem gesellschaftlichen Verhalten böse. Zwar sind sie äußerst distinguiert, aber gar nicht so besonders arrogant im Vergleich mit den Kleinstädtern in Stars Hollow, die sehr wohl ihre Verhaltenskodizes berücksichtigt wissen wollen und jenseits eines schmalen mittleren Grades nicht jeden akzeptieren; man denke an ihre Ablehnung des Punks Jess und des ‚Snobs‘ Christopher. Emily kann nichts dafür, dass sie nur eine begrenzte Vorstellung von einem gelungenen Leben hat, und dass sie sich das nun einmal für ihre einzige Tochter wünscht. Sie kann nichts dafür, dass sie jenseits ihrer Konversations- und Verhaltensrituale hilflos ist. Sie kann nichts dafür, dass sie ihre Tochter kaufen will, statt Familienbande anderweitig herzustellen. Sie kann nichts dafür, dass sie in einer Art Nervenzusammenbruch ein Flugzeug kaufen will, um sich abzureagieren.

Die Serie verhält sich äußerst kritisch gegenüber einer sich auf Basis von Geld und toter Rituale selbst reproduzierenden Elite, aber Exklusion und andere unsympathische Züge werden eindeutig als strukturelle Probleme und nicht als persönliches Fehlverhalten und Schwäche dargelegt. Wobei die beiden Lorelais, also die Mittlere und die Jüngste, gemessen an der Ausgangssituation Auswege aufzeigen und diesen Kreislauf bis zu einem gewissen Grad durchbrechen können. Es wird sich zeigen, dass das dann auch in gewisser Weise das Ende der Narration bedeutet.

Nur weil Erinnerung so schön ist, ein weiteres Beispiel zur Determiniertheit: Logan. Dieser Charakter ist intelligent, witzig, interessant, eloquent und charmant auch jenseits der erlernten Spielregeln der höheren Gesellschaft. Er interessiert sich aufrichtig für Rory und ist in starkem Maß positiv gezeichnet. Er ist kein schlechter Mensch, sogar tolerant und mitfühlend. Als Rory und er aber in einem Anfall von jugendlichem Leichtsinn eine Yacht stehlen – was halt schon mal passieren kann –, zeigt die Serie einmal – anhand von Rory – den unwahrscheinlichen Fall, dass eine Richterin kein Mitleid mit verwöhnten reichen Kindern hat und sie sie verhältnismäßig hoch bestraft, und einmal den Fall – anhand von Logan –, dass die Straftat einfach keine Konsequenzen hat. Als Logan sein eigenes und fremdes Vermögen von Investoren in Millionenhöhe verliert, weil er eine Kleinigkeit übersehen hatte – was wir schließlich alle schon mal getan haben, als wir jung waren –, muss er vor Schreck nach Las Vegas fliegen, um dort noch mehr Geld zu vertrinken und verspielen, und am Ende sind es die Anwälte des Vaters, eines Medienmoguls, die die Sache zurechtrücken. So lässt die Serie Logan am Ende nicht stehen, aber sie zeigt anhand dieser Figur die Folgenlosigkeit von Verhaltensweisen in einem Geld- und Ritual-geschützten Raum.

Wenn es ein großes Narrativ in der Serie gibt, dann ist es das Familienepos. Wenn es ein großes Thema gibt, dann ist es diese Milieustudie. Bei näherem Hinsehen löst sich dies als Narration allerdings auf und zerfällt in eine Aneinanderreihung von Schlaglichtern, anhand derer man metonymisch den Wertehorizont der Generationen rekonstruieren kann. Die große Erzählung des Zusammenbruchs liegt schließlich schon 16 Jahre zurück und wird lediglich nachholend hineingeholt.

Was in den ca. sechs Jahre der erzählten Zeit erzählt wird, ist Rorys Schulbildung vom Eintritt in die Chilton High bis zu ihrem Abschluss in Yale. Und was diese Erzählung weiterhin thematisch ausmacht, ist der neue Werterahmen der beiden jüngeren Generationen, der sich um Lebensfreude rankt. Natürlich sind auch die jungen Gilmores Gilmores und damit Profiteure dessen, wogegen sie opponieren. Ihnen geht es besser als anderen, und all ihre Qualitäten beruhen auf der Gewissheit eines prinzipiellen Überflusses. Diese Dialektik von Partizipation und Provokation ist auch ein Merkmal der Pop-Kultur, und man muss wirklich nicht besonders genau hinsehen, um zu bemerken, dass sich die Pop-Kultur in der Serie selbst erzählt. Oder auch nicht erzählt.

Die Narration oder Narrationen lösen sich angesichts von Pop vollends auf. Pop ist Sampling, Kompilation, Collage, Zitat, Persiflage, Pastiche, Parodie, Ironie[5]… es ist das Zeigen des Bekannten in der reziproken Gewissheit zwischen Produzentin und Konsument, dass ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, was Du weißt, was ich weiß… Wiedererkennung mit raffinierten kleinen Verschiebungen, und beides wird also solches goutiert. Pop basiert auf Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit,[6] Skripten oder Szenographien[7] und führt diese in weiteren Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit fort, wie auch das Serienformat in seiner alten Variante – also Ausstrahlung im Fernsehen im wöchentlichen Rhythmus zu einer für alle verbindlichen Sendezeit – eine solche Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit bildet.

Wir konnten zwischen 2000 und 2007 wunderbar jede Woche darüber diskutieren, wie schrecklich wir Emily nun finden – ich war immer ihr Fan –, ob Lorelai am Ende nicht doch etwas nervt – bei aller Faszination für die Konstruktion der Figur: ja –, und ob Rory nicht vielleicht ein wenig zu idealtypisch konstruiert ist – da wage ich ein vorsichtiges: Nein, passt schon. Wir hatten eine neue Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit. Vielmehr aber ist die Serie eine Ansammlung von allem, was wir schon kennen, von bekannten Namen, Topoi, Plotelementen, Dialogfetzen, Figurenkonstruktionen, Szenarien etc., und es muss wohl nicht hinzugefügt werden, dass wir für das Wiedererkennen nicht unsere lebensweltliche Erfahrung, sondern unsere intertextuelle Kompetenz aktivieren.

Das fängt bei amerikanischer Kleinstadt an und hört bei amerikanischer Eliteuniversität auf. Wenn wir nicht chronologisch, sondern alphabetisch vorgehen – und warum auch nicht –, fängt es bei Abschlussball an und hört bei Zeugnisvergabe auf. Wir wissen genau, dass der Junge dem Mädchen ein Anstecksträußchen mitbringt – so Dean Rory –, und wir haben das Umlegen der Quaste am Doktorhut/Mortarboard schon hundert Mal gesehen – so Rory und Paris Geller . Der Plot von Gilmore Girls baut sich aus einer Reihung von solchen Standardsituationen auf. D.h. auch ohne die berühmten Referenzen auf Marken, Stars, Musik, Bücher und Filme handelt es sich weniger um Narration als um Kompilation.

Nun aber zu einer Sammlung der Sammlung oder einem Best of des Best of, denn eine Best of-Sammlung der Pop-Kultur aus der Perspektive der Produzentin Amy Sherman-Palladino und dem Produktionsteam stellt uns dieses Pop-Artefakt vor, und diese sei nach meinem Geschmack – und die Sache mit dem Geschmack ist Pop[8] – im Folgenden verdichtet oder reduziert:

Die Figur Lane Kim, Koreanerin der zweiten Generation aus katholischem Haus und beste Freundin der Gilmores, steht vor allem für die musikalischen Einflüsse und Referenzen. Diese insgesamt oder auch nur in Bezug auf diese Figur aufzulisten, wäre unmöglich, aber zum Glück macht Lane selbst eine Liste, als sie per Zeitungsannonce als Drummerin eine Band sucht und zu dem Zweck ihre musikalischen Vorbilder benennt.

Bei dieser Liste hat Lane die gleiche Not, wie die Verfasserin dieses Artikels in Bezug auf erwähnenswerte Szenen, eine Auswahl zu treffen und ein Ordnungsschema zu entwickeln. Weil Zeilen Geld kosten, muss sie sich kurz fassen, was ihr die schier unmögliche Aufgabe auferlegt, eine immer härtere Selektion vorzunehmen: In einem Zwischenschritt entspannt sich folgender Dialog mit Rory: „Lane: The Accelerators, The Adolescents, The Adverts, Agent Orange, The Angelic Upstarts, The Agnostic Front… Rory: Du gehst alphabetisch vor. Lane: So schien‘s mir klarer.“ Die arme Lane hatte bei A aber schon AC/DC, The Animals und Aha – „Lane: ne uncoole Lieblingsband“ – gestrichen. (s03e03)

Dass hier eine Kopplung anhand von Musikgruppen stattfindet, bildet ein alltägliches pop-kulturelles Prinzip ab. Lane zeigt, wie pop-kulturelle Distinktion und Selbstverortung funktionieren.[9] Und anstelle weiterer Fiktionalisierungen und Narrativierungen sagt diese Liste alles über Lane, was Zusehende wissen müssen, natürlich nur, wenn die Bands ihnen etwas sagen. Und während man der Liste folgt, geht man auf der metafiktionalen Ebene in sich, prüft sich, wie die eigene wohl aussehen würde, was man hinzufügen würde, was man weggelassen hätte, und über diesen nicht narrativen und auch nicht deutenden Vergleich mit Lane legt man sich über sich selbst Rechenschaft und Bekenntnis ab. Dass ausgerechnet die Katholikin einen solchen Kult der Auserwählung und Selbstfindung vormacht, mag kein Zufall sein.

Aber da die Liste absurd lang und alphabetisch angeordnet ist, kann an der Stelle keine Feinabstufung vorgenommen werden, sondern es wird eine Hommage an die Pop-Kultur schlechthin vorgeführt, und auch an das Listenbilden selbst, das ein integraler Bestandteil der Pop-Kultur ist.[10] Schließlich handelt es sich nicht nur um die einzige Bandliste, die in der Serie aufgeführt wird – z.B. erhalten wir an anderer Stelle auch eine Liste der Bands, die ihre Karriere im CBGBs gestartet haben (s04e11). Vor allem aber rückt die Liste in den Mittelpunkt, weil ihr schwieriges Zustandekommen thematisiert wird, und weil sie eben keine knackige Rangliste, sondern eine alphabetische Reihung darstellt, also den Anspruch der Serie spiegelt, eine Enzyklopädie der Pop-Kultur zu sein. Listen spielen allerdings in jeder Hinsicht eine große Rolle in der Serie. So macht Rory eine Pro- und Contra-Aufstellung bei den allerexistentiellsten Lebensentscheidungen, d.h. auch die psychologische Selbstvergewisserung innerhalb der Fiktion funktioniert nicht im Modus der Narration, sondern im Modus des Aufzählens.

Im Verlauf der Serie gründet Lane die Band Hep Alien, deren Besetzung für eine figurale Collage oder einfacher gesagt: eine Art Cameo sorgt: Sebastian Bach, Sänger der ab den 80er Jahre bekannten Heavy-Metal-Band Skid Row spielt den Gitarristen der Band. Interessanterweise spielt er aber nicht etwa in einem absurden Plot sich selbst, sondern eine fiktionalisierte Figur, aber dennoch hat er eigentlich keine Rolle und Funktion außer als Sebastian Bach einfach da zu sein und die langen Haare zu schütten, um das Wort Headbangen zu vermeiden. Das entspricht einem Kamee, einem Relief-Bild auf einem Schmuckstein, ist punktuell, skulptural, zitathaft, nicht linear, erzählt, originell. Und dabei natürlich total originell und ironisch, aber natürlich für diejenigen, die Sebastian Bach auch erkennen, d.h. der Spaß ist auch ein bisschen exklusiv.

Interessant ist noch, dass Hep Alien als Cover-Band startet, aber noch bemerkenswerter ist die weitere Zusammensetzung der Band. Der Bassist Brian entstammt nämlich einem Experiment, das mit dem Begriff „Interfigurality“[11] beschrieben werden kann. Er ist eigentlich eine Figur aus einem anderen Genre, nämlich der typische Nerd einer Teenager-Komödie, der dem Schach- oder dem Teleskopclub angehört und nicht einer Punk-Metal-Band. Der Inhalator, den der Allergiker braucht, ist neben der Wahl des Schauspielers, der ein bisschen schwach auf der Brust ist, und der Brille sicheres Zeichen dieses eigentlichen Kontextes, aus dem er deplatziert und zitathaft neben Sebastian Bach kompiliert wurde.

Brians aktiv christliche Öko-Gutmenschen-Superpädagogen-Eltern sind dann die einzigen Gäste beim ersten Auftritt der Band im legendären CBGBs. Die Mutter hat ihm in einer Tüte geschälte Möhrchen mitgebracht, und Brian greift erfreut und schamfrei nach seinem Auftritt hinein. Reformuliert werden hier filmische Klischees zum Konflikt zwischen verschiedenen Jugend-Cliquen und den Generationen. Erzählt wird dies aber nicht. Man muss aus der Filmgeschichte die – damals noch in deutschen Übersetzungen so bezeichneten – Eierköpfe der 80er Jahre ebenso wie die Geschichte der Punk- und Rock-Musik kennen, um zu verstehen, welche Witze das Bandensemble mit sich bringt. Aber oberflächliche Vertrautheit reicht, und werʼs nicht kennt, muss angesichts der Situation trotzdem grinsen.

Joe Strummer wird in der Serie häufiger erwähnt, und in einer Folge erhält Lorelai die Lederjacke, die er während der Pearl Harbour-Tour trug, als Geschenk (s03e18). Sein Tod wird in der Serie bedauert, aber in gewisser Weise ersteht er in ihr auf. Milo Ventimiglia, der Darsteller von Jess Mariano, hat Ähnlichkeit mit Joe Strummer, was mit Sicherheit Zufall, vielleicht auch Einbildung der Verfasserin ist. Betrachtet man jedoch die gängigen bildhaften Inszenierungen von Joe Strummer, fallen durchaus Parallelen auf bzw. ist völlig klar, dass sie ostentativ den gleichen Typus verkörpern.

Die Posen, die Lektüre von Punk-Magazinen, die Kleidung, vor allem die Lederjacke, die Jess trägt, machen ihn nicht nur einfach zum filmtypischen Bad Guy, von dem alle Angst haben, dass er das unschuldige Vorstadtmädchen verdirbt, sondern zu einem Zitat einer Musik-Ikone und einem Klischee. Die Ironie dabei ist natürlich, dass Lorelai zwar natürlich The Clash mag, aber bei Jess an die Grenzen der Toleranz gerät und er ihr als Freund ihrer Tochter ein Dorn im Auge ist. Pop ist nur in seiner kanonisierten Variante für alle erträglich, wodurch fraglich wird, wie ungeschliffen und sub Pop bleiben kann oder werden darf.

Man kann Jess als intertextuelle Anspielung verstehen, und die Figur in den Mustern der Joe Strummer-Biographie oder allgemeiner der Punk-Geschichte deuten. Aber der Clou an der Interfiguralität dieser Figur, ihrer Collageartigkeit – und er wird wirklich sichtbar gebrochen, also als unpassend und fremdartig in das Arrangement eingeklebt –, ist der, dass die soeben getätigten Assoziationen zu nichts führen, was man in einem hermeneutischen Sinn als Erkenntnisgewinn verbuchen könnte.[12] Man versteht an der Stelle nicht mehr oder weniger, wenn man die genannten Bezüge durchdenkt. Der Plot und die Dialoge um diese Figur sind selbsterklärend und bedürfen keiner intertextuellen Kompetenz. Dennoch ist Jess nicht irgendeine unpassende Liaison, sondern er ist ein Zitat. Und es wird einiges aufgewendet, um das Zitat so deutlich wie möglich zu machen, ganz einfach weil gemeinsames Erinnerung in der Verschränkung von Produktion und Rezeption, also Zeigen und Erinnern so viel Spaß macht.

Und weil es eben so viel Spaß macht, soll auf die beste Stelle in der Serie hingewiesen werden, in der die bildliche Inszenierung und die musikalische Untermauerung einen äußerst witzigen Clash produzieren (03e21). Ostküste tritt gegen Westküste an, Punk gegen Beach Boys, fehlt einzig ein Verweis auf das Whisky a Go Go im Kontrast zum häufiger erwähnten CBGBs. Jess trifft auf der Suche nach seinem Vater in Venice ein. Am Ende muss er feststellen, dass sein Vater mit gefühlt hundert Hunden und einer Hippiefrau zwischen Traumfängern und Glöckchen lebt. Unmittelbar nach seiner Ankunft kommt es aber zu DER Einstellung überhaupt: In voller Montur, mit dunkler Lederjacke und langer Hose steht Jess am Strand zwischen gut gelaunten, halb nackten Badegästen, während Catch a wave von den Beach Boys eingespielt wird. Es folgt ein Blick des Darstellers, den ich nicht zu beschreiben imstande bin…

Interessant ist, dass man in allen Ausstrahlungsländern der Serie alle Versatzstücke des Bildes so gut kennt, dass diese Einstellung reicht, damit ein pop-kulturgeschichtlicher Abriss im Kopf abläuft und die Ironie verstanden wird. Nichts weiter muss erzählt werden. Dass dies allerdings vergnüglich gewesen wäre, wussten auch die Produzenten, die gerne ein Spin Off zu den Gilmore Girls an der Westküste mit Milo Ventimiglia in der Hauptrolle gedreht hätten. Das Projekt konnte aus Kostengründen nicht zustande kommen. Schade, aber wir haben in dem Bild auch schon alles gesehen, damit sich das Narrativ in uns entfaltet. Wir bedürfen nicht der Narration, auch wenn wir sie gerne gehabt hätten.

Völlig sinnlos ist auch eine Szene, in der die äußerst distinguierte Urgroßmutter Lorelai Trix Gilmore aus England angereist ist, um die Familie zu besuchen. Im Gegensatz zu den Neu-England-Reichen hat diese Figur tatsächlich aristokratische Züge, auch wenn sie keine Engländerin, sondern nur aus den USA nach England ausgewandert ist. Selbst und vor allem Emily zittert vor dieser Frau, die gekommen ist, um ihren Besitzstand in den USA zu klären. Nachdem wir ein wenig Gelegenheit hatten, die strenge, furchteinflößende, erbarmungslose, überaus abwertende, bissige, aber sehr witzige Figur kennenzulernen, merkt sie trocken zu ihrem Haus an: „Trix: Im letzten Jahr habe ich doch mein Haus in Hartford vermietet, und zwar an eine Gruppe Musiker. Sie sind vor kurzem ausgezogen, also wollte ich mal nach dem Haus sehen und einen neuen Mieter suchen. Lorelai: Was waren das für Musiker? Trix: Eine Rock’n’Roll-Gruppe, wenn ich mich nicht täusche. Ich glaube, sie nennen sich Korn. Lorelai: Die Metal-Band Korn? Rory: Ist das cool. Trix: Es waren anständige Leute, die sich um alles gekümmert haben, selbst um meine Rosen und Tulpen im Vorgarten.“ (03e10) Muss das noch weiter kommentiert werden?[13]

Natürlich gibt es auch das Fernsehen im Fernsehen und die Bilder in den Bildern. Aus diesem Fundus sei lediglich auf eine Szene verwiesen (s05e21). Als Luke und Kirk um den Kauf eines Hauses konkurrieren, über das vordergründig der Bürgermeister und allseitige Strippenzieher Taylor Doose verfügt, kommt eine ominöse Gruppe ins Spiel, die von Taylor als ‚maßgebliche Stellen‘, ‚maßgebliche Entscheidungsträger‘, ‚höchstes Gremium‘ und ‚Ältestenrat‘ bezeichnet. Luke und Kirk dürfen ihm vorsprechen, damit entschieden werden, wer das Haus erhält. Unvermittelt setzt die entsprechende Szene in einer Sauna ein, in der ein paar ältere Herren versammelt sind. Luke fragt: „Was soll das mit der Sauna hier, verdammt noch mal?“ Zusehende wissen es. Das Gesicht einer der Herren ist nicht zu sehen, weil er ein Handtuch so über dem Kopf trägt, dass er aussieht wie ein Jedi Ritter, und Meister Yoda fällt schließlich auch mit einer bedeutungsträchtigen Begründung den weisen Urteilspruch, dass Luke das Haus zum Kauf erhalten soll.

Insgesamt zerfällt die Narration in isolierte Fremdelemente, die als solche herausragen. Dass in Stars Hollow das Festival der lebenden Bilder gefeiert wird, stellt einen passenden Metakommentar dazu dar. Die Figuren aus der Kleinstadt verkleiden sich wie die Figuren berühmter Gemälde und müssen nacheinander auf einer Bühne jeweils einige Sekunden in dieser Aufmachung starr in dem Rahmen stehen. Es findet also eine Sukzession bekannter Bilder statt, aber keine Bewegung innerhalb derselben, nicht etwa ein Bühnenspiel, das eine Narration bergen könnte. Was konnte die Serie besser metafiktional kommentieren?

Natürlich Rorys Abschlussrede auf der Chilton, durch die nun endlich die Literatur im vorliegenden Beitrag zu ihrem Recht kommt: „Ich lebe in zwei Welten. Die eine ist die Welt der Bücher, ich war Bewohnerin von Faulkners Yoknapatawpha County, jagte den weißen Wal an Bord der Pequod, kämpfte an der Seite Napoleons, fuhr auf dem Floß mit Huck und Jim, dachte mir Absuditäten mit Ignatius J. Reilly aus, warf mich vor den Zug mit Anna Karenina und wanderte durch Swanns Welt. Es ist eine beglückende Welt, aber meine zweite ist jedoch weit überlegen. Diese Welt wird von Personen bevölkert, die zwar nicht so exzentrisch, dafür aber umso wirklicher sind. Menschen aus Fleisch und Blut, voller Liebe und Wärme. […] die allergrößte Inspiration ist mir meine beste Freundin, die schillernde Frau, die mir meinen Namen gegeben und die mich zur Welt gebracht hat. Lorelai Gilmore. […] Immer hat sie unser Haus mit Liebe und Freude gefüllt, mit Büchern und Musik und mich mit Vorbildern versorgt von Jane Austen und Eudora Welty zu Pattie Smith. […] (s03e22)

Hier zeigt sich der Lektürehorizont der Mutter der Serie Amy Sherman-Palladino. Und einmal mehr wird deutlich, dass Produktion und Rezeption durch einen geteilten intertextuellen Raum verbunden sind, ein gemeinsames pop-kulturelles Universum voraussetzen. Dass die Serie ganz artifiziell, avantgardistisch und poppig so konstruiert ist, dass man entdeckend von Anspielung zu Anspielung bzw. von Collage-Fragment zu Collage-Fragment hoppen kann, um in der paradigmatischen Aufsplitterung unendlich viele Geschichten, die aus der Fiktion hinausragen, zu kombinieren,[14] dass sie also nicht traditionell im Rahmen einer geschlossenen Diegese erzählt wird, bedeutet aber nicht, dass sie nicht absolut realistisch verfährt.

Im Fall von Sebastian Bach und Brian in der Band, von Jess am kalifornischen Strand, Trix und Korn und dem Jedi-Rat in der Sauna ragen die Bruchstücke ganz klar aus der Fiktion heraus, und die eigene Zitat- und Klischeehaftigkeit und der Witz werden innerhalb der Fiktion nicht bewusst. Aber an anderen Stellen, wie im obigen Zitat, ist es durchaus nicht so, dass nur wir als Zusehende ein Bewusstsein für die Zitate haben, sondern all dies wird in der Serie durchaus psychologisch-realistisch geglättet. Die Figuren rezipieren ja ganz einfach innerhalb der Fiktion, was wir auch rezipiert haben. Wir erkennen nicht nur alles auf einer metafiktionalen Ebene wieder, sondern verfolgen, wie die Figuren innerfiktiv auf die Angebote aus Texten, Büchern, Filmen und Musik reagieren. Es bewegt sich völlig im Rahmen einer realistischen Wahrscheinlichkeit, dass sich Figuren über und anhand von Pop-Kultur unterhalten.

Das tun wir auch den ganzen Tag, d.h. Intertextualität ist, ontisch betrachtet, keine Textgröße mehr, sondern Teil unserer kommunikativen Alltagshandlungen, eine szenographische Größe, durch die sich textuelle Artefakte, kognitive Prozesse und soziale Handlungen koppeln. Indem die Serie in der Hinsicht auch ganz schlichtes Abbild alltäglichster Dialoge wird, wird das Nebensächliche zur Hauptsache, wird für uns Unauffälliges sichtbar. Wenn wir uns über Liebeskummer unterhalten, unterhalten wir uns bewusst über Liebeskummer. Dass wir dabei möglicherweise heute, am 29. August 2016, auch auf Jennifer Lopez oder Jogi Löw zu sprechen kommen, ist nicht absolut unwahrscheinlich, wird aber von uns vielleicht kaum bemerkt.

Und so sind auch folgende Dialoge mimetisch, völlig realistisch und wahrscheinlich, könnten an jeder Straßenecke aufgeschnappt werden: Ein beiläufiges Gespräch zwischen Lorelai und Rory, in dem Lorelai versucht, ihre Tochter aus der Freitagabend-Vereinbarung mit den Großeltern herauszuhauen, sieht so aus: „Lorelai: Weißt Du, was ich denke? Rory: Mal sehn, Madonna und Sean Penn sollten wieder heiraten? Lorelai: Abgesehen davon, ich finde deine Golfexpedition sollte als Ersatz für das Essen gelten.“(s01e03) An anderer Stelle ist Lorelai in Eile und möchte Luke um Hilfe bitten. „Lorelai: [..] das heißt natürlich, dass ich gleich losfahren muss. Hoffentlich kriege ich unterwegs die Dilithium-Kristalle für den Warp-Antrieb des Jeeps, sonst schaff ich es niemals hin und zurück.“ Luke bietet ihr seine Hilfe an und bemerkt: „Luke: Und Pluspunkte für das Ding mit den Dilithium-Kristallen. Lorelai: Das hat man von Sex mit Irren.“ (s06e03) Aber natürlich hatten und haben die als Irre bezeichneten Nerds das aus dem Fernsehen.

Als Lane von ihrer Schwangerschaft erfährt und an ihren Mutterqualitäten zweifelt, erhält sie den zweifelhaften Trost von Rory, dass sie sicher eine bessere Mutter sein wird als Britney Spears, Courtney Love und Michael Jackson. „Rory: […] du nennst dein Kind nicht Blankett. Lane: Ganz sicher nicht. […] Stell Dir mal vor Blankett trifft Toms und Katies Baby Pillow. […] Sie sind bestens vorbereitet, wenn es Zeit zum Schlafen wird. Rory: Und dann könnten sie noch vielleicht Gwynethʼ Apple einladen, als Snack nach dem Aufwachsen. Lane: Und Banjo, Rachel Griffithʼ Baby könnte ihnen was vorspielen. Rory: Und dann können sie sich alle in Mia Farrows Satchel verstecken und sich kaputt lachen über … wie heißt er noch gleich? Lane: Oh, Pilot Inspector Lee.“ (s07202)

Allenfalls die Länge des Dialogs und ein Stolperstein – aus heutiger Perspektive – lassen die Stelle auffällig erscheinen. Toms und Katies Kind heißt Suri. Katie wurde jedoch in den Medien eine Zeitlang unterstellt, sie sei gar nicht schwanger, sondern trage ein Kissen unter ihren Kleidern. Abgesehen von der Länge und der vielleicht mittlerweile vergessenen – aber zum ersten Ausstrahlungszeitpunkt sehr wohl bekannten – Information aus der Boulevardpresse ist nichts an diesem Dialog merkwürdig, unrealistisch oder unwahrscheinlich. – Mia Farrows Sohn scheint sich übrigens als Erwachsener lieber Ronan Farrow zu nennen und nicht mit seinem vollständigen Geburtsnamen Satchel Ronan O’Sullivan Farrow.

Nun bleibt abzuwarten, welche neuen Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit auf allen Fiktionsebenen in und auf Basis der Fortsetzung entstehen, und ob und wie sich die Narration bzw. Nicht-Narration im Folgenden entfaltet. Dass die Serie nicht erst durch den großen ‚Cliffhanger‘, sondern schlicht durch ihr serielles Format immer schon Leerstellen produziert hat, ist klar. Das war seit jeher Merkmal eines jedes Fortsetzungsroman und einer jeden Serie.[15] Damit haben diese Formate immer schon etwas Nicht-Erzählendes gehabt, denn auch unabhängig von szenographischen Anspielungen eröffnet sich von Folge zu Folge stets ein Raum zwischen zwei schematisierten Ansichten, der nicht mit expliziter Narration, sondern mit Fantasie gefüllt wird. Dass zwischen zwei Folgen alle Möglichkeiten imaginiert werden können, hat etwas Nicht-Lineares.

Nun ist aber gerade die neue Art, Serien zu rezipieren, nämlich ganze Staffeln auf DVD oder auf Netflix in einem durch anzusehen, dieser Qualität abträglich. Über das neue epische Format der neuen Qualitätsserien ist schon viel gesagt worden, und die Möglichkeit zu einer abgeschlossenen Rezeption ganzer Staffeln hat sicher etwas damit zu tun. Ob dies das Ende des Endes der Narration ist, bleibt dennoch fraglich, denn viele Serien bleiben zum einen in ihrem Arrangement recht flächig und folgen außerdem in einer intermedialen Anordnung einer Game-Logik, setzen also ludische Elemente um – Breaking Bad, Game Of Thrones, House of Cards, Stranger Things usw. usf. –, die im Medium des Fernsehens zwar nicht mehr wirklich interaktiv funktionieren, aber vielleicht auch nicht mehr als Narration bezeichnet werden können.

Sherman-Palladino jedenfalls hofft, dass Netflix die Staffel nicht sofort als Ganzes zugänglich machen wird. Sie möchte den Raum der Erwartungen von Folge zu Folge eröffnet wissen. Außerdem möchte sie den Kenntnisstand der Zusehenden synchronisieren, es verunmöglichen, dass jemand einfach entscheidet, die letzte Folge zuerst zu sehen.[16] Gemeinsame Aufmerksamkeit und Zwischenräume für Diskussionen, also pop-kulturelle Rezeptionsrituale, die (post-)moderne Serialität eine lange Zeit geprägt haben, sollen also, wenn es nach dem Wunsch der Produzentin geht, erhalten bleiben oder wieder etabliert werden. Ein Hinweis mehr darauf, dass Gilmore Girls als serielle Serie – aber keineswegs episodische! – nicht, nicht nur, nicht mehr und noch nicht wieder von der Narration lebt, sondern immer noch und wieder von deren Ende.

 

Anmerkungen

[1] Hier weckt Showrunner Amy Sherman-Palladino Neugier, indem sie andeutet, dass Rory zum Auftakt der neuen Folgen durchaus nicht alles erreicht hat, was sie sich erhofft hatte (http://www.prosieben.de/stars/news/gilmore-girls-mit-alexis-bledel-rory-in-der-midlife-crisis-052248).

[2] http://www.imdb.com/title/tt5435008/fullcredits?ref_=tt_ov_st_sm.

[3] http://www.usmagazine.com/entertainment/news/gilmore-girls-revival-michel-gerards-backstory-will-be-revealed-w211377.

[4] Kafitz, Dieter: Johannes Schlaf. Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Wirklichkeits-Begriffs und zur Herleitung totalitärer Denkformen. Berlin 1992.

[5] Wenn ein Satz wie ‚Pop ist…‘ nur so einfach wäre: http://www.pop-zeitschrift.de/2012/09/09/pop-aktuelle-definitionen-und-sprachgebrauchvon-thomas-hecken/; http://www.pop-zeitschrift.de/2013/03/14/pop-konzepte-der-gegenwartvon-thomas-hecken14-3-2013/.

[6] Tomasello, Michael: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 20; Bauer, Matthias: Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit. Medien als Kulturpoetik. Zum Verhältnis von Kulturanthropologie, Semiotik und Medienphilosophie. In: Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hrsg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie. Bielefeld 2003, S. 94-118, S. 94f.

[7] Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München, Wien 1987, S. 99-103; Bauer, Matthias: „Berlin ist eine ausführliche Stadt.“ Einleitende Bemerkungen zur Berliner Stadt-, Kultur- und Mediengeschichte. In: Matthias Bauer (Hrsg.): Berlin. Medien- und Kulturgeschichte einer Hauptstadt im 20. Jahrhundert. Tübingen 2007, S. 15f.

[8] Werber, Niels: Das graue Tuch der Langeweile. Der Dandy als Motiv und Verfahren der Literatur. 1900/2000. In Alexandra Tacke/Björn Weyand (Hrsg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln u.a. 2009, 60-79, hier 75; Werber, Niels: Vortrag auf der Tagung Szenarien der Ausnahme an der Universität Siegen, 17.-19.09.2015; Werber, Niels: Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Forschungsstelle Populäre Kulturen an der Universität Siegen im Wintersemester 2015/16. Ich danke Niels Werber für die Bereitstellung der Manuskripte. Eine Zusammenfassung der Vorträge wird erscheinen in: LiLi 183 (2016): Szenarien der Ausnahme in der Populärkultur.

[9] Venus, Jochen: Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie. In: Marcus S. Kleiner, Thomas Wilke (Hrsg.): Performativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken. Wiesbaden 2013, S. 49-74, hier 54; Thomas Hecken, „Pop-Konzepte der Gegenwart“, S. 96-99 in: www.uni-münster.de/Ejournals/index.php.pop/article/view/755/720 [Link erloschen]

[10] Schaffrick, Matthias: Listen als populäre Paradigmen. Zur Unterscheidung von Pop und Populärkultur. In: KulturPoetik 16 (2016), Heft 1, S. 109-125.

[11] Müller, Wolfgang: Interfigurality. A Study on the Interdependance of Literary Figures. In: Heinrich Plett (Hrsg.): Intertextuality. Berlin 1991, S. 101-121.

[12] Venus 2013, S. 56-57.

[13] Rosenzweig, Mathias: The Importance of Music in Gilmore Girls. http://noisey.vice.com/blog/what-i-learned-about-music-from-gilmore-girls.

[14] Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/Main 1974, S. 107.

[15] Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1970.

[16] http://www.ibtimes.com.au/gilmore-girls-netflix-revival-spoilers-series-creator-mentions-one-thing-could-have-stopped-year.

 

Dr. Maren Lickhardt ist Assistenzprofessorin am Institut für Germanistik an der Universität Innsbruck.