Geteilte Geschichten? Mode, Flucht und Migration
von Elke Gaugele
7.4.2016

Kleiderkammern, Modeschauen, ›Conflict Cotton‹

[zuerst veröffentlicht in: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 8, Frühling 2016, S. 10-17]

Während des Kosovokrieges machte Hussein Chalayan als erster Modedesigner auf die steigende Zahl an Kriegsflüchtlingen aufmerksam. In seiner Aufsehen erregenden Kollektion »Afterwords« (H/W 2000/01) verwandelte er statische Einrichtungsgegenstände wie Tische oder Sofas in mobile Kleidungsstücke und Koffer. Die Situation der Flüchtlinge, jederzeit zum Aufbruch bereit sein zu müssen und kein festes Zuhause zu haben, prägte Chalayans Entwürfe.

Auch gegenwärtig scheut die Modeindustrie vor einer politischen Auseinandersetzung mit den Themen Flucht und Migration nicht zurück, wie bei den Pariser und Mailänder Modewochen im Januar (Männer H/W 2016/17) zu sehen. Riccardo Tisci (Givenchy) stellte westliche Afrika-Stereotype in Frage, er zeigte, wie subkulturelle Styles über die Kontinente wandern.

 

Seine von botswanischen Heavy-Metal-Fans inspirierten Männer in schwarzen Wildlederstiefeln und Wildlederjacken reihen sich bis hin zu ihrem kleinen blutroten Kragenpelzchen perfekt in das Ornament der Pariser Fashion-Trauergemeinde ein: In die für Louis Vuitton inszenierten Bilder elegant schwarz gekleideter Trauernder genauso wie in die Farbkompositionen von Comme des Garçons, wo die Rottöne der Blumenmuster auf den Hemden und in den Blumenkränzen der Mannequins beim Finale der Show in einer Beerdigungszeremonie kulminierten, bei der schwarz gekleidete Models üppige Blumenbouquets im Arm trugen. Opulent erinnerte Comme des Garçonsʼ Catwalk-Inszenierung an die Gesten und Medienbilder der Trauernden nach den Novemberattentaten und inszenierte auf diese Weise Bilder, die Gesten von Krieg und Frieden, von Trauer und Leid theatralisch-cineastisch verdoppeln.

 

Pradas Gestaltung des Catwalks als Autodafé gemahnte an die Glaubensgerichte der spanischen Inquisition, an religiös gerechtfertigte Erschießungen, Hinrichtungen, Attentate und Kriege. Historisch demjenigen Publikum gleich, das über Leben und Tod der Ausgestellten urteilte, saßen die Besucher der Show an allen vier Seiten eines quadratischen Laufstegs. Getragen von der Poetik eines historisch-romantischen Eskapismus marschierten hier Models als traurige und beinahe geisterhaft inszenierte Seefahrer*innen entlang, die in Sepiatönen an die Passagen der Flüchtlinge über das Mittelmeer, an Verstorbene sowie Ein- und Auswanderer gleichermaßen erinnerten.

 

In Paris reinzenierten viele Designer*innen bei den Januar-Shows (Männermoden H/W 2016) ihre Reaktionen auf die Terroranschläge im November 2015. »Stop terrorizing our world!«, lautet das Statement von Walter van Beirendoncks Kollektion »WOEST« (nl.), deutsch: wüst, fuchsteufelswild, wütend, das nach den Terroranschlägen auf Brüssel im März 2016 sogar noch an Brisanz gewonnen hat.

Miteinander verflochtene Geschichten? Von den Messehallen und Showrooms mit ihren Modenschauen, die Flüchtlingsbilder nutzen und entwerfen, zu einem Depot in Frankfurt am Main, eines der vielen Lager in Deutschland und Österreich, das die die Erstversorgung der Flüchtlinge in den Aufnahmestellen vorbereitet. »Vor den Weihnachtsferien sind wir beinahe in den vielen Sachen erstickt«, berichtet Frau S., eine der drei langjährigen Hauptamtlichen im Frankfurter Kleiderdepot, das Diakonie und Caritas gemeinsam führen.

Den Vorstellungen und Bedürfnissen der Menschen entsprachen die Spenden oftmals nicht, erzählt eine Wiener Helferin über die ersten Tage, als die Flüchtlinge über die Balkanroute in der Stadt ankamen. Beide Seiten hätten anfangs recht ratlos vor den gespendeten Kleidungsstücken, ihren Formen und Größen gestanden, die weder vom Fit zueinander gepasst noch vom Style zueinander gefunden hätten. Erst nachdem Freunde ihrem Aufruf gefolgt seien, sich von besseren Slim-Fit-Teilen zu trennen, habe sich die Situation verändert. »Inzwischen wissen wir, worauf wir achten müssen.« Männerbekleidung wird überwiegend in S und M benötigt, größere Kleidungsstücke wandern in den Familienmarkt.

Andere Gaben verwandeln sich in Müll. Als Amalgam steifer, verwaschener Shirts und verfusselter synthetischer Strickwaren wandert Fast-Fashion in den Recyclingmüll. Der Used-Look der Fast-Fashion-Teile nimmt auf irritierende Weise den Status von Altkleidern vorweg: gleich wegschmeißen? Andere Kleidungsstücke entsteigen nahezu perfekt und in einer beinahe einschüchternden Festigkeit dem Kleiderberg. Duftend, frisch gewaschen, gebügelt und mehr als akkurat gefaltet, tragen sie noch die Gewissenhaftigkeit und die Haushaltskünste ihrer Träger*innen in sich.

Auch Küchenschürzen werden gespendet und lösen als Kleiderspenden für Flüchtlinge zunächst ein Stirnrunzeln aus, genauso wie Karnevalskostüme. Dennoch werden all diese Sachen zu Artikeln und als solche logistisch bearbeitet. Helfen versachlicht sich in der großen offenen Halle zur rationalisierten Arbeit eines Logistikbetriebs. Globale Unternehmen wie Procter & Gamble oder die Lufthansa Cargo Group stellen ihren Mitarbeiter*innen frei, im Rahmen von Social Days hierher zu kommen, um gemeinsam große Ladungen wegzuschaffen, ›Gutes zu tun‹ und dadurch am ethischen Mehrwert der Firmen mitzuarbeiten. Sie werken neben ehrenamtlichen Helfer*innen und Hilfskräften, die Sozialstunden abarbeiten. Gemeinsam sind sie an unterschiedlichen Packstationen bei der Feinsortierung der Spenden tätig.

Neben Decken haben sich Taschen als ein gefragtes Gut erwiesen, denn in den Unterkünften und Sporthallen gibt es keine Kleiderschränke. Alle verwahren die wenigen Dinge in Taschen unter dem Bett, Taschen bieten Stauraum, um ein paar Habseligkeiten rasch mitnehmen zu können, wenn es weitergeht. Viel lässt sich nicht anhäufen, weder in einer Tasche noch am eigenen Leib.

Die Haufen bestimmen nur den Beginn: Auf Biertischen kleben die Rubriken, nach denen die Kleiderberge aus Rollwägen nach Größen sortiert in Umzugskisten geordnet, gestapelt, gelagert und auch ausgeliefert werden. Das Spektrum der gespendeten Frauenkleidung gliedert sich auf in: Blusen, T-Shirts, Pullover/Strickjacken, Hosen/Jeans, Röcke, Kleider, Jacken, Mäntel, Blazer, Kostüm, Hosenanzug, Nachtwäsche, Unterwäsche, Sportbekleidung, Strümpfe, Schuhe, Stiefel sowie Mützen/Schals/Handschuhe in den Größen S 34-38, M 40-42, L 44-46, XL 48-50 und XXL 52-54. Diese Liste wiederum entspricht dem Bestellschein, den die Frankfurter Turnhallen und die Helfer von Gleis 24 am Hauptbahnhof ausfüllen, wenn sie Kleidung für die Flüchtlinge anfordern. »Bitte geben sie in die entsprechenden Felder eine ungefähre Anzahl des gewünschten Artikels ein«, steht dort. Und: »Wir sind bemüht die Anforderungen zu erfüllen, so lange es unser Vorrat erlaubt. Bei nicht vorhandenen Artikeln wird ein Vermerk n.V. (nicht vorhanden) angebracht. Fehlende Artikel werden zum Anlass genommen, den Bedarf durch einen neuen gezielten Spendenaufruf, so bald als möglich zu decken.«

Bevor sie irgendwann in den Spendenlagern landen, werden solche Artikel manchmal in den Krisengebieten von Flüchtlingen selbst für den deutschen Käufermarkt hergestellt. Vor dem Bürgerkrieg war Syrien ein wichtiges Anbaugebiet für Baumwolle. Nachdem im September 2015 bekannt wurde, dass der Islamische Staat (IS) bereits drei Viertel der syrischen (Bio-)Baumwollproduktion kontrolliert und deren Verkauf in illegalen Lieferungen über die Türkei abwickelt, wurde ›Conflict Cotton‹ für den Textilmarkt zu einem neuen, schmutzigen Begriff.

Dass syrische Flüchtlinge in der Türkei als Arbeitskräfte unter dem gesetzlichen Mindestlohn für globale Marken wie Zara und H&M nähen, legte eine bereits 2014 veröffentlichte Studie der österreichischen Clean Clothes Campaign offen. Der Bericht zeigte auf, dass die Verlagerung der Textilproduktion in die Türkei und in die postsozialistischen Länder darauf zurückzuführen ist, dass die Lücken zwischen dem gesetzlichen Mindestlohn und dem existenzsichernden Basislohn in europäischen Billiglohnländern noch größer geworden zu sein scheinen als in Asien. Auch die türkische Textilindustrie lässt in den postsozialistischen Ländern des Balkans und Südkaukasus produzieren und beschäftigt Migrantinnen aus Syrien sowie aus osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern, zum großen Teil als nicht registrierte Arbeitskräfte.

Die Transformation von sozialistischen zu kapitalistischen Gesellschaften und der Zusammenbruch des Comecon-Markts führte in der Globalisierungsphase nach 1989 zu einer akuten Armut, in der die Bekleidungsindustrie eine der wenigen verbliebenen Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. Doch trotz ihrer langjährigen Berufserfahrung erhalten die Beschäftigten einen gesetzlichen Mindestlohn, der weit unter einem existenzsichernden Lohn liegt und damit einen wichtigen Grund für eine Auswanderung nach Mitteleuropa darstellt. Bei den kroatischen Lieferanten von Benetton oder Hugo Boss betrug der Lohn der Arbeiter*innen zum Zeitpunkt der Studie gerade ein Drittel des Basis-Existenzlohns.

Die Modebranche bevorzugt es selbstverständlich, andere Laufbahnen zu zeigen. Bei der Pitti Immagine Uomo in Florenz wurden drei Asylbewerber aus Mali und Gambia, die im Mai 2015 über das Mittelmeer nach Europa gekommen waren, als Models der »Generation Africa Show« (14.01.2016) ausgestellt.

 

Unterschiedlichen Akteuren ging es darum, die jungen Männer zu Protagonisten ihrer Sache zu machen. Die Flüchtlingsinitiative Lai-momo sah in der Show die Chance, das öffentliche Bewusstsein für den gemeinsamen transkulturellen Raum zwischen Afrika und dem Mittelmeerraum zu öffnen und die drei Asylbewerber als Teil eines ermächtigenden internationalen Events als Kreative Afrikas zu feiern.

 

Der US-Nigerianische Designer Walé Oyéjidé wiederum betonte, dass die Asylbewerber seine Überzeugung, Mode könne die Idee der Gleichheit zwischen den Menschen und die Diskussion um Migration und Grenzen befördern, auf perfekte Art und Weise repräsentierten. Denn welche der vielen Models auf dem Catwalk nun die tatsächlichen Flüchtlinge waren, so schrieb auch Suzy Menkes in der »Vogue«, habe im Publikum niemand sagen können, außer dem Initiator der Show Simone Cipriani.

Als Begründer der UN-Ethical Fashion Initiative wollte Cipriani in Zeiten der Flüchtlingskrise demonstrieren, dass Migranten eine ›Ressource‹ seien. Die Show diente als Promotion für sein Vorhaben, in Italien ein Trainingscenter für Flüchtlinge und Migranten zu schaffen, in dem sie für die Arbeit in der italienischen Modeindustrie ausgebildet und im Falle ihrer Rückkehr für die Gründung eines eigenen Geschäft gerüstet werden. Mit dem Ziel, eine Brücke zwischen sog. Entwicklungshilfemaßnahmen und der Modeindustrie zu schaffen, verfolgt die unter dem Dach der Welthandelsorganisation gegründete Ethical Fashion Initiative seit 2006 eine neue Politik der Global Governance: Mode und Textilien werden als Mittel politischer und ökonomischer Steuerung verstanden.

Der bereits erwähnte Walé Oyéjidé will auf andere Weise mit der afrikanischen ›Ressource‹ zum Erfolg kommen. Er kreiert für Ikiré Jones Fusion-Fashion, »that marries African aesthetics with classic art from all over the world«, und folgt so dem aktuellen Trend, das Design von Wax Prints mit dem globalen Kunstmarkt zu verbinden. Dank dieser Verschränkung von Mode, Kunst und Popkultur soll ein neues Luxussegment für globale Mittel- und Oberschichten entstehen. Titel seiner Kollektion: »After Migration«.

 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Transcript Verlags.

Weitere Hinweise zum Erstveröffentlichungsort, dem Heft 8 der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik«, hier.

Bei dieser Webveröffentlichung handelt es sich um eine leicht erweiterte Version.