Mädchen Mütter Monster – Manifeste von Tiqqun und Lady Gaga
von Heide Volkening
15.3.2016

Programmatische Abgrenzungen von der Girl-Kultur

 [zuerst erschienen in: Ralph Poole/Yvonne Katharina Kaisinger (Hg.): Manifeste. Speerspitzen zwischen Kunst und Wissenschaft. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2014, S. 149-169]

Girl-Kultur

Das 20. Jahrhundert war auch das Jahrhundert der Girls. Angefangen mit den Fabrik-, Laden- und Schreibmädchen um 1900, die als Working Girls zum Gegen­stand von romantischen und sozialkritischen Narrativen, Analysen, Musik- und Bildwelten wurden, über die Flapper, It-Girls und diversen Girl-Tanz­formationen der 1920er Jahre, bis zu den Minirock tragenden Groupies, Schul- und Hippiemädchen der 1960er und 70er, über Madonnas Material Girl der 1980er, zu den Riot Grrrls und Girl Groups, zu dem Jungfrau-Mädchen Britney Spears und den Frauen-Mädchen in TV-Serien und Filmen wie Ally McBeal, Bridget Jones’s Diary und Sex and the City in den 1990ern prägt das Girl die Wahrnehmung von Weiblichkeit in Pop und Populärkultur.[1] Es tritt auf in Narrativen, Musik und Bildern, in denen Selbstverwirklichung, ambivalente Bezieh­ungskonstrukte, hedonistischer Genuss („girls just wanna have fun“) und Auf­stiegsphantasien („diamonds are a girl’s best friend“) unterschiedlich kon­stel­lierte aber wiederkehrende Elemente bilden.

Auch um die und nach der Jahrtausendwende bleibt das Girl omnipräsent, sei es in altväterlichen Diskussionen um das „Fräuleinwunder“ in der deutsch­sprachigen Literatur,[2] sei es in Form des Feminismus-Revivals der „Alpha­mädchen“ oder in der peinlich nostalgischen Titelei Neue deutsche Mädchen.[3] Weniger bekenntnishaft und literarisch aufregender zeigen sich renitente weib­liche Teenager als Hauptfiguren in zwei der kontroversest diskutierten und best ver­kauften deutschsprachigen Romanen der letzten Jahre, nämlich in der Groteske Feuchtgebiete von Charlotte Roche[4] und in Axolotl Roadkill von Helene Hegemann. In den USA sind seit 2007 gleich drei sehr erfolgreiche TV-Serien gestartet, die das Girl im Titel tragen, Gossip Girl (2007), New Girl (2011) und Girls (2012). 2011 brachte Beyoncé Knowles die Sache mal wieder auf den Punkt. Klang der Titel ihres Songs Run the World (Girls) noch wie eine Auf­forderung zur Ermächtigung, so konstatierte der Song die Machtübername bereits als Faktum: „Who run the world? – Girls!“

Vor dem Hintergrund dieser aktuell zu beobachtenden Hochkonjunktur fallen daher programmatische Abgrenzungen von verschiedenen Formen der Girl-Kultur oder populäre Inszenierungen von Weiblichkeit, in denen die verfügbaren Girl-Muster nicht aufgenommen, transformiert oder parodiert werden, besonders ins Gewicht. Gegenwärtig gibt es zwei Manifeste ganz unterschiedlichen Cha­rak­ters, die so etwas wie Vorboten dafür sein könnten, dass mit der Hochzeit des Girls womöglich auch sein Ende eingeläutet wird. Es handelt sich dabei um Tiqquns Premiers matériaux pour une théorie de la Jeune-Fille, das zuerst in Zeit­schriftenform 1999 publiziert worden ist[5] und 2009 als Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens in deutscher Übersetzung erschien,[6] und Lady Gagas Manifesto of Mother Monster von 2011. Gagas Manifesto ist das Intro oder der Vorspann ihres Videos zu Born This Way.[7] Lady Gaga, im gleichen Jahr vom Rolling Stone zur „Queen of Pop“ gekürt,[8] gibt sich darin als Mutter Monster. Vermutlich zum ersten Mal seit Erfindung des Pop wird damit die Position des weiblichen Superstars zur Mutterimago. Zwei Manifeste könnten unterschiedlicher kaum ausfallen – eine Text-Bildmontage mit kultur­kritischer Pointe auf der französischen, ein Musikvideo mit versöhnlicher Bot­schaft auf der amerikanischen Seite. Ihnen gemeinsam ist die Absetzung von einer Dominanz des Girls als Paradigma des Populären im 20. Jahrhundert mit den Mitteln des Manifests, sei es in der eher konventionellen literarischen Form bei Tiqqun oder im Anspielungsraum des Popvideos bei Lady Gaga.

Kulturkritische Retrospektion: Tiqquns Jeune-Fille

Tiqquns „Trash-Theorie“ (S. 21, Hervorhebung im Original)[9] des Jungen-Mäd­chens ist Teil eines größeren Diskursuniversums, das durch das Wort „Tiqqun“ zusammen­gehalten wird. „Tiqqun“ (auch in der Schreibweise „Tikkun“) kommt aus dem Hebräischen und ist geläufg in der Formel tiqqun olam und bedeutet dann „Welt-Verbesserung“ oder auch „Welt-Reparatur“.[10] „Tikkun“ bezeichnet aber auch die Bücher, die Hilfestellungen für den Vortrag oder die Abschrift der Tora­rolle bereitstellen, und ist somit Teil der jüdischen Gelehrtenkultur. Im Kon­text der Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens vertritt „Tiqqun“ die Position des Autornamens, auf den ganz verzichtet wird. Es ist die Bezeich­nung für die Quelle eines Textes, die sich in radikaler Abgrenzung zur Autor­schaft[11] lediglich als eine „Lokalisierung des geistigen Punktes“ ver­standen wissen will, „von dem diese Schriften ausgehen“ (S. 8). Tiqqun ist aber auch der Titel der Zeitschrift, in der die erste Fassung der Premiers matériaux pour une Théorie de la Jeune Fille 1999 erschien. Auch andere Publikationen, die später in Bucheditionen vorlagen, wurden dort zuerst veröffentlicht. Als Organe conscient du Parti Imaginaire versprach die erste Ausgabe von Tiqqun auf ihrem Cover Exercices de Métaphysique Critique. Tiqqun 2, untertitelt als Organe de liaison au sein du Parti Imaginaire, kündigte eine Zone d’Opacité Offensive an.[12]

Im Wort Tiqqun bündelt sich also eine paratextuelle Verwirrungsstrategie, in der die Position des Autors vom Titel nicht mehr zu unterscheiden ist. Tiqqun ist in der Verwendung als Titel, Publikationsort und Textquelle ein Knotenpunkt im Diskurs, auf den man zurückkehren kann. Man könnte auch sagen: Tiqqun erfüllt die Funktion eines Markennamens. Auf der Homepage des diaphanes-Verlages, der andere Schriften desselben Diskursuniversums wie Theorie vom Bloom und Kybernetik und Revolte in deutscher Übersetzung herausgebracht hat,[13] sah man an der Stelle des Autorenbildes das Foto eines jungen Mannes, der sich sein Gesicht bzw. seine Gesichtsmaske abnimmt, um darunter eine wohl links-autonome Ski-Masken-Vermummung zu zeigen. Erstaunlicherweise ist der Ausdruck der vom Gesicht enthüllten Maske dabei recht eindeutig – aggressiver Blick und offener Mund signalisieren Angriff.

Tiqqun Abbildung 1. Autorenfoto Tiqqun auf der diaphanes-Homepage

Als Erläuterung findet sich neben der Abbildung der Satz:

„Die deutsche Leserschaft wird zu Recht danach fragen, welche Bedeutung die Chiffre ›Tiqqun‹ an einer Stelle hat, an der MAN gewöhnlich den Namen eines Autors erwartet: Tiqqun ist, soviel vorab, weder ein Autor noch ein Autorenkollektiv. Tiqqun ist ein Instru­ment, ein Instrument im Dienste einer Position…“[14]

Der Verzicht auf alle Attribute, die konventionell mit Autorschaft verbunden sind – Individualität, Originalität aber auch Verantwortung – soll die reine Instrumentalität von Text und Hervorbringern betonen und sichern. Beide werden verstanden als Mittel des Kampfes. Denn mit der Theorie des Jungen-Mädchens haben sich Tiqqun nichts weniger als den großen Kulturkampf zum Programm gemacht: „Niemals mit der Idee der Kultur paktieren“ (S. 7). So lautet die negative Beschreibung der eigenen Aufgabe, Krieg führen die positive. Das eigene Schreiben versteht sich als Praxis, die darauf zielt, der „Zivilisation den Todesstoß zu versetzen und sie dann zu begraben“ (S. 8, Hervorhebung im Original). Tiqqun partizipiert an der virilen Rhetorik der Manifeste der historischen Avantgarde. Übersetzt wird diese Rhetorik in die politische Theorie Carl Schmitts, wenn die einzige akzeptierte soziale Unter­scheidung „nur Freunde und Feinde“ (S. 7) heißt.

Die Grundbausteine zielen weniger auf den Entwurf eines zu realisierenden Programms oder eines zu bearbeitenden Projektes als auf die Manifestation einer Position (vgl. S. 13). Anders als in vielen Manifesten der historischen Avant­garde geht es dabei jedoch nicht um ein autoreferentielles Spiel, um „das Mani­festieren als Ziel des Manifests,“[15] sondern um Manifestation als Sichtbar­machung. Manifest-werden als Akt der Aufklärung, der zwar nicht als solcher benannt wird, aber mit den klassischen Metaphern der Aufklärung erläutert wird: Die Grundbausteine operieren gegen die „Blindheit“ und den „Analpha­betismus“ der Warengesellschaft (S. 13) und nutzen dafür das Junge-Mädchen als „Sehmaschine“ (S. 14, Hervorhebung im Original), als ein optisches Instru­ment. Mit seiner Hilfe soll – hier sind wir dann wieder bei der Freund-Feind-Unterscheidung – die „Front“ (S. 13) im „totale[n] Krieg“ (S. 11, Hervorhebung im Original) des Empire sichtbar werden.

Was decken Tiqqun auf? Ihre Beschreibung der Gegenwart greift auf klassische kulturkritische Positionen zurück: Guy Débords Gesellschaft des Spektakels, Michael Hardts und Antonio Negris Empire und Martin Heideggers Uneigentlichkeit des Man bilden die Bezugspunkte und den Rahmen der Aussagen bzw. stellen das Vokabular zur Verfügung, aus dem sich die Position des Textes zusammenbastelt.[16] Die Figur des Jungen-Mädchens erinnert zudem stark an Gilles Deleuzes Überlegungen zur Kontrollgesellschaft.[17] Die Gegen­wart, so heißt es bei Tiqqun, sei gekennzeichnet durch eine Verlagerung der disziplinären Kontrolle in das Innere der Individuen: Innere Überwachung und Selbstkontrolle, Therapie und Coaching zielen auf die Homogenisierung eines verführbaren Konsumenten und auf eine „Unterdrückung des Ausdrucks von Lebensformen“ (S. 12). Ging es Michel Foucault in seiner Beschreibung der Unausweichlichkeit der Biopolitik vor allem um ihr produktives Moment, um die Macht als Produktionsinstanz des Sexes im Sinne von Sexualität und Geschlechtlichkeit,[18] so sprechen Tiqqun demgegenüber von „einer reinen Politik der Repression“ (S. 12): „Es gibt eine regelrechte imperiale Arbeit der Täuschung, der Vernebelung und der Ausrichtung von Körpern auf Abwesen­heiten, Unmöglichkeiten“ (ibid.).

Ihre Arbeit der Ent-Täuschung und Erhellung setzt bei der jeune fille, beim Mädchen an. In der Arbeit der Selbstzurichtung nimmt das terminologisch verwendete Junge-Mädchen, Jeune-Fille im Original, eine Sonderstellung ein, insofern sich in ihr zwei moderne Mythen[19] verdichten, nämlich „Jeunitude“ und „Fémininitude“ (S. 28). Frauen und Jugendliche galten der frühen Werbebranche als Agenten des Konsums, sie waren die bevorzugten Objekte, in denen sich eine neue Lebensweise des „commodity self“ verkörpern sollte – so die im Rückgriff auf einen Klassiker der Konsumforschung formulierten Thesen Tiqquns, nämlich Stuart Ewens Captains of Consciousness.[20] Treffen sich Jugend und Weiblichkeit in einer Personen-Imago, kommen beide in Gestalt des „knabenhafte[n] Mädchens“ zusammen, so ergibt sich „der Modellbürger, wie die Warengesellschaft ihn seit dem Ersten Weltkrieg als explizite Antwort auf die revolutionäre Bedrohung neu definiert hat“ (S. 15, Hervorhebungen im Original). Tiqqun folgert: An die Stelle von Arbeit als integrative gesell­schaftliche Praxis ist Konsum getreten: „Die Unterwerfung unter die Arbeit, die eingeschränkt war, da der Arbeiter noch nicht mit seiner Arbeit identisch war, wird gegenwärtig durch die Integration der subjektiven und existentiellen Gleichschaltung, das heißt im Grund durch den Konsum, ersetzt“ (S. 15). Das Junge-Mädchen hat das Proletariat abgelöst.

Tiqquns plakative These ist in mindestens zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens beruht sie auf einer verkürzt wiedergegebenen Darstellung der Über­legungen Ewens, der im Gegensatz zu Tiqqun darauf hinweist, dass das Jugend­ideal der Werbung dieser Zeit zu der Mechanisierung von Arbeit und den damit verbundenen Verschiebungen in der Bewertung von Alter in der Sphäre der Produktion in einem engen Zusammenhang steht. Im frühen 20. Jahrhundert wurde in den Industrienationen, so Ewens, Kinderarbeit nach und nach zurück­gefahren und schließlich verboten. Andererseits aber wurden aufgrund verän­derter Produktionsbedingungen die Erfahrungen und Fähigkeiten, „skills“, des älteren Arbeiters durch die Kraft, „strength“, der jungen Arbeiter ersetzbar und Jugend somit zum Ideal-Bild des produktiven Arbeiters. Statt einer Ablösung des Arbeiters durch den Konsumenten spricht Ewens von einer wechselseitigen Verstärkung der Sphären von Konsum und Arbeit:

„Youth was an industrial ideal, a growing category of modern work and survival, and its approximation was being sold through the retail markets of nationally advertised brands. Corporations which demanded youth on the production line now offered that same youth through their products.“ [21]

Zweitens beharren Tiqqun in ihrer Analyse des Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts auf einer Trennung von Produktion und Reproduktion, die es ihnen erlaubt, die Sphäre des Privaten und der Reproduktion als nicht-kolonialisierte, mithin vom Kapital nicht regulierte Sphäre zu denken. Gerade weil die Frauen in der „Sphäre der Reproduktion“ herrschten (S. 16), so Tiqqun, konnten sie der „Warengesellschaft äußerst skeptisch“ gegenüberstehen (S. 15-16). Ihre konsum-orientierte Integration unter dem „Anschein der Emanzipation“ (S. 16) sei nur als Ausweitung der kapitalistischen Logik auf den Bereich der Repro­duktion zu verstehen. Dem Feminismus unterstellen Tiqqun daher, nur die letzte perfide Verschleierungsstrategie des Kapitals zu sein. Tiqquns Argument funktioniert nur, wenn man die Trennung von Produktion und Reproduktion selbst und mit ihr die Verteilung von Öffentlichkeit und Privatheit, Männlichkeit und Weiblichkeit nicht für ein konstitutives Ordnungsschema des Kapitalismus hält. Die Räume des Privaten und der Reproduktion als Refugien nicht-kapitalistischer Prinzipien der Affektion und Ökonomie zu verstehen, entspricht einer konservativen Familien-Rhetorik und der Idee der „Keimzelle“ Familie als Grundeinheit des Nationalstaates.[22] Hier treffen sich linke Kapitalismuskritik und Beschützer traditioneller Familienmodelle.

Tiqquns Grundbausteine legen bekannte kulturkritische Topoi wieder auf, die eine enge Verbindung von Jugendlichkeit, Weiblichkeit und Konsum konsta­tieren: Das Mädchen gilt als Verkörperung der Massenkultur, als Beweis für die Verdinglichung gesellschaftlicher Bezüge und als Indiz der allgemeinen Waren­förmigkeit menschlichen Zusammenlebens.[23] Implizit wird damit jedoch auch all das abgewehrt, was aus der Perspektive derjenigen, die sich selbst als Mädchen bezeichnen, positiv gesehen werden kann: die Auflösung einer polaren Geschlechterordnung, die Ermöglichung differierender Lebensentwürfe von Frauen, die Etablierung sozialer Räume und Beziehungen jenseits der Familien­positionen als Tochter oder Ehefrau und Mutter usw.

Zu fragen ist jedoch, ob sich das Manifest in der Geste einer komprimierten Archivierung der Mädchen-Kritik des 20. Jahrhunderts erschöpft. Gibt es ein Moment des Textes, das über die Evokation bekannter Kapitalismus-Kritik hinausgeht? Gibt es etwas, das diese Thesen variiert, umgeht, verschiebt? Zwei mögliche Spuren lassen sich hier verfolgen:

Erstens die Auflösung der geschlechtlichen Bindung des Mädchens. Insofern es zum Modellbürger geworden ist, so Tiqqun, sind inzwischen alle zum Junge-Mädchen geworden, unabhängig von Geschlecht und Alter:

„Der Frauenaufreißer in der Disko ist damit genauso gemeint wie die als Pornostar geschminkte Jugendliche arabischer Herkunft. Der ältliche Playboy, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat und seine Freizeit zwischen der Cote d’Azur und seinen Pariser Büros, in denen er noch einen Fuß drin hat, verbringt, gehört genauso dazu wie die großstädtische Single-Frau, die zu sehr an ihrer Consulting-Karriere hängt, um sich bewusst zu werden, dass sie bereits fünfzig ist.“ (S. 14)

Konnte sich der Kulturkritiker des frühen zwanzigsten Jahrhunderts noch als Gegenentwurf zum Mädchen profilieren, so ist diese Möglichkeit inzwischen abhanden gekommen. Ist der Krieg im oben beschriebenen Sinne total und das Junge-Mädchen ubiquitär, so muss man folgern, dass auch Tiqqun und die Grundbausteine dem von ihnen beschriebenen Prozess unterliegen. So lässt sich wohl auch die rhetorische Virilität des Textes als Abwehrstrategie der eigenen Mädchenhaftigkeit lesen.

Eine zweite Antwort auf die gestellte Frage nach der Differenz zu den zitier­ten und bekannten Positionen lässt sich womöglich im Textverfahren finden. Die Grundbausteine bestehen aus verschiedenen Aussageweisen: der Rhetorik des Manifests, längeren Zitaten aus Klassikern der Kulturtheorie, Slogans, Über­schriften und Bildern aus Frauenzeitschriften, sowie namentlichen Nen­nungen von Autoren und positiv besetzten Begriffen, die als Gegenüber des Jungen-Mädchens eingeführt werden: Hölderlin, Ausdruck, Liebe, Freiheit, Mikroben, Zufall, Leidenschaft, Zeit, Fett, Stille, Politik. Der Text ist in unterschiedlichen Schrifttypen gesetzt, wie um der Vereinheitlichung der Typo­graphie, einer standardisierenden Schrift zu entgehen. Natürlich ist auch dies längst ein gängiger Umgang mit Schrift in den inkriminierten Frauenzeit­schriften. So wird der Montagecharakter auch als parodistische Mimesis deutbar.

Trotz der Schrifttypenwechsel und der collageartigen Präsentation von Viel­stimmig- und Fragmenthaftigkeit bleibt jedoch der Eindruck einer gewissen durchgängig nörgelnden Einstimmigkeit der Aussage. Die Collage von Stimmen stellt zwar die „kontingente[] Herkunft“ ihrer Elemente aus, ist aber weniger heterogen, als der erste Blick suggeriert. Aber auch die vorliegende lose Samm­lung gewinnt eine gewisse homogene Evidenz durch Wiederholungen von Aus­sagen und Begriffen, die der Ordnung der „approximativen Rubriken“ (S. 21) des Inhaltsverzeichnisses nur bedingt folgen.[24] Der Text hätte auch nach eigener Auskunft „eine durchaus vorzeigbare Doktrin […] bilden können“ (ibid.).

Die Ära der Monster: Lady Gagas Missgeburten

Lady Gaga gehört genau zu jener Kultur des Konsums, die eines der bevor­zugten Angriffsziele Tiqquns darstellen: der populären Unterhaltung. Trotz ihrer erst kurzen Karriere ist Lady Gaga bereits ein selbstverständlicher Gegenstand der Gender und Cultural Studies geworden[25] und darüber hinaus Namensgeberin eines neuen Feminismus, wie ihn Judith Jack Halberstam proklamiert: Gaga Feminism.[26] Ähnlich wie Madonna in den 1990er Jahren provoziert das Phänomen ‚Lady Gaga‘ zur Analyse. Ähnlich wie bei Madonna scheint es sich bei Lady Gaga um eine signifikante Verdichtung von Gegenwart zu handeln, an der sich virulente Fragen zu aktuellen Körperbildern und Geschlechterpolitiken diskutieren lassen. Im Unterschied zu Madonnas hedonistischem Diskurs der Selbstverwirklichung als Selbstdarstellung, „Express Yourself!“, der einen benennbaren roten Faden der wechselnden Weiblichkeitsinszenierungen Madonnas bildet,[27] stellt Lady Gaga jedoch ein fragileres Selbst dar, wie etwa Victor P. Corona in der Musikzeitschrift Spex zugespitzt formuliert hat:

„Die Musik und das Image des Material Girl spielten mit der Selbstermächtigung von Frauen, der Lust am eigenen Körper, der Verkündigung eigener Wahrheiten und dem Spektakel des Sex. Das Mother Monster Lady Gaga behandelt das Gegenteil all dessen: die Überwindung von Geschlechteridentität, die Gefangenschaft im eigenen Körper, die Belanglosigkeit von Wahrheit und das Spektakel des Spektakulären selbst.“[28]

Dieser hier konstatierte Bruch mit dem Mädchen als herrschender Imago weiblicher Popstars, der Wechsel zu einer monströsen Mutterfigur, zu einer Mutter für Monster soll im Folgenden im Mittelpunkt stehen.

Lady Gagas Manifesto of Mother Monster ist Teil einer audiovisuellen Medieninszenierung. Von ihr selbst über das musikalische Thema von Hitchcocks Vertigo gesprochen, das von Bernard Herrmann komponiert wurde, bildet es eine Art Prolog zum Musikvideo Born this Way. Genau genommen lässt sich gar nicht exakt bestimmen, wo das Manifest aufhört, denn auch die ersten Songverse werden noch über die Musik von Vertigo gesprochen und auch die den beiden Sequenzen entsprechenden Bildwelten überlappen sich. Es ist also eher der Wechsel der Musik – von Vertigo zu Born This Way, der den Abschluss markiert und als Ende des Manifests gedeutet werden könnte. Genauso plausibel ist es jedoch, das gesamte Paket, also Prolog, Video und Song als Manifest zu begreifen.

Das Manifesto verkündet die Geburt einer neuen Rasse als Prozess ewigen Werdens. Die Geburtsthematik steht auch im Song Born This Way im Mittel­punkt und zwar vordergründig im Sinne einer dem Subjekt unverfügbaren Geburt, im Sinne einer Ich-bin-was-ich-bin-Haltung und einer damit verbun­denen Selbstliebe: „I’m on the right track baby / I was born this way.“ Von Lady Gaga selbst als gay pride anthem angekündigt ruft der Song zur Akzeptanz von Differenz auf:

Whether you’re broke or evergreen
You’re black, white, beige, chola descent
You’re lebanese, you’re orient
Whether life’s disabilities
Left you outcast, bullied, or teased
Rejoice and love yourself today
‚Cause baby you were born this way
No matter gay, straight, or bi,
Lesbian, transgendered life
I’m on the right track baby
I was born to survive

Soweit es sich verschiedenen Blogs entnehmen ließ, hat die Gay Community in den USA nicht nur euphorisch reagiert, den Song aber etwa bei einer Tanz-Protest-Performance gegen die Klinik von Marcus Bachmann, in der homo­sexuelle „Barbaren“ „diszipliniert“ und „unterrichtet“ (O-Ton Bachmann) werden sollen, eingesetzt.[29] Zur Erinnerung: Bachmanns Ehefrau Michele war eine der Kandidatinnen der Republikaner im Vorwahlkampf für die Präsident­schaftswahlen 2012. Das christliche konservative Lager scheint auch der Kontext zu sein, auf den Song und Video abzielen. Dass dabei von Lady Gaga selbst ein religiöser Bezug ins Spiel gebracht wird, „God makes no mistakes“, ist auch eine Strategie, den politischen Gegner mit den eigenen Waffen zu schlagen, nämlich den Vertretern der Intelligent-Design-Theorie mit Hilfe ihres eigenen Gottesbegriffes Homosexualität als gottgewollt zu präsentieren. Natür­lich lässt sich diese Bezugnahme auch als Versuch werten, Religiosität und Gott nicht der anderen Seite zu überlassen.

Die Geburtssemantik des Manifestes sollte jedoch nicht im Sinne einer mit der Geburt gegebenen Form missverstanden werden. In Paratexten zu Video, Song und Manifesto hat Lady Gaga immer wieder betont, dass das Bild der Geburt für einen unabschließbaren Prozess des Werdens steht. Geburt in diesem Sinne ist eine Kette von Wiedergeburten. So hat sie anlässlich ihrer im Sommer 2011 plötzlich auftretenden spitzen Schultern in einem Interview mit dem Billboard Magazine auf diesen Prozess hingewiesen: „‚My bones have changed in my face and shoulders,‘ she says. ‚I am now able to reveal to the universe that when I was wearing jackets that looked like I was wearing shoulder pads, it was really just my bones underneath.'“[30] Gaga kehrt das Verhältnis von Kleidung und Körper um: die Kleidung kann schon zeigen, was der Körper noch werden musste. Gerade die Damen-Modegeschichte ist ja auch eine Geschichte der Zurichtung des weiblichen Körpers im Sinne einer Einschnürung und Einengung – bekannt sind etwa die verheerenden Effekte von Korsett und spitzen hohen Schuhen auf Knochen, Muskeln und Innereien. Indem Gaga umgekehrt das Wachsen des Körpers in den Vordergrund rückt, wird die Prothese – das Schulterpolster – zur Hohlform, die es noch auszufüllen gilt: bigger than nature.

Bei der ersten öffentlichen Präsentation von Born This Way anlässlich der Grammy-Verleihung 2011 nutzte Gaga die Geburtsmetaphorik für einen besonderen Auftritt auf dem roten Teppich: Verborgen in einem riesigen Ei wurde sie von mehreren mit Latex oder Gummi nur spärlich bekleideten Trägerinnen und Trägern an den Photographen vorbeibugsiert. Die eigentliche Bühnen-Performance, nämlich ihr Auftritt mit Born This Way, begann damit, dass sie in anspielungsreich choreographierter Weise dem Ei entstieg. Ihr ausge­streckter Fuß und abgewinkelter Ellenbogen zitierten eine Pose, die Salvador Dalis Bild Geopoliticus Watches the Birth of the New Man von 1943 entstammt.[31] Die daran anschließende Tanzperformance folgte hinsichtlich der Kostüme und der Bewegungen einem der bekanntesten US-amerikanischen Tanzstücke des Modern Dance, nämlich Alvin Aileys Revelations von 1960, wie Meghan Blalock im Detail gezeigt hat.[32] Aileys Stück, entstanden und aufgeführt in der Hochzeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, thematisiert den Weg der afro-amerikanischen Community von der Versklavung zur Freiheit. Damit ist visuell der thematische Rahmen gesetzt, in dem sich die Performance bei der Grammy-Verleihung, aber auch Video, Song und Manifest bewegen: die Wieder-Geburt zur Freiheit. Soweit zum durch zitierte Referenzen geschaffenen Kontext, in den das Manifesto of Mother Monster eingebettet ist.

Drei miteinander verschränkte Ebenen gilt es im Videoclip zu beobachten: Bild, Ton und Text. Die Bilder arbeiten mit dem Verfahren einer symbolischen Verdichtung, wenn nicht Übercodierung. In Anspielung auf den Rosa Winkel, mit dem Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex praktizierten, in NS-Konzen­trationslagern gekennzeichnet wurden und der auf den Kopf gedreht, mit der Spitze nach oben, zum Symbol der Aids-Bewegung Act Up! wurde, öffnet das Video mit einem rosafarbenen dreieckigen Rahmen innerhalb dessen sich ein glitzerndes weißes Einhorn bewegt. Das Einhorn gilt als Symbol der Jungfrau Maria, als Verbindung zur Jungfräulichkeit und Jungfrauengeburt einerseits und als Tier, dem man nachsagt, schwul zu sein und natürlich der weiße oder hellrosa Begleiter von Barbie, Prinzessin Lillifee und anderer für kleine Mädchen konzipierte Heldinnen. Das weiße Glitzer-Einhorn erinnert auch an Bianca Jaggers Ritt auf dem Schimmel im Studio 54, also an einen zur Legende gewordenen Disco-Moment.

Das Einhorn wird durch eine Trickblende überdeckt von einem sich ebenfalls im Rahmen des Dreiecks befindenden Gesicht, dessen Konturen eher ver­schwommen bleiben; erkennbar werden geschlossene Augen, die stark blau geschminkt sind. Der rosa Rahmen vervielfacht sich und kommt auf den Zuschauer zu wie die seitlichen Markierungslichter bei einer Fahrt durch einen Tunnel. Das gesamte Bild dreht sich um 180°. In dem auf die Drehung folgenden Zoom wechselt die Kamera von der halbtotalen Aufsicht zur Groß­aufnahme in Normalsicht. Die sitzende Gaga ist mit abgespreizten Beinen durch goldfarbene Ketten an einen Thron oder Gynäkologenstuhl gefesselt, ein quadra­tisches Gestell aus Glas oder Acryl und Metall. Es zeigt sich, dass das zuerst gesehene Gesicht nur eine Täuschung, nämlich der Hinterkopf zu Lady Gagas stark geschminktem ‚wahren‘ Gesicht ist. Auffällig an diesem ‚wahren‘ Gesicht sind das mit dem dritten Auge versehene Kinn, die kantigen Wangenknochen/-implantate, die stark geschminkten Augen sowie ein deutlich als solches erkennbares hochtoupiertes Haarteil auf dem ein Kreuz zu sehen ist, das aus einem schwarzen Strich und einer Art Glitzer-/Diamantbordüre gebildet wird.[33] Hinter ihrem Gesicht befinden sich kristalline durchsichtige Strahlen und auch Anmutungen von Flügeln lassen sich erkennen. Man hat darin eine visuelle Anspielung auf die Ikonographie Elisabeth I. erkannt und Verbindungen zum Kult der jungfräulichen Königin als Mutter ihres Volkes gezogen.[34]

Als die Kamera in der Großaufnahme von Lady Gaga für eine Sekunde (!) innehält, bevor sie in einem Zoom wieder zur Halbtotale aufzieht, setzt der gesprochene Text des Manifestes ein – über das musikalische Thema von Vertigo:

Manifesto of Mother Monster
On G.O.A.T., a Government Owned Alien Territory in space, a birth of magnificent and magical proportions took place. But the birth was not finite, it was infinite.
As the wombs numbered and the mitosis of the future began, it was perceived that this infamous moment in life was not temporal, it is eternal. And thus began the beginning of the new race. A race within the race of humanity. A race which bears no prejudice, no judgment, but boundless freedom. But on that same day as the eternal mother hovered in the multiverse another more terrifying birth took place: The birth of evil.
And as she herself split into two, rotating in agony between two ultimate forces, the pendulum of choice began its dance.
It seems easy, you imagine, to gravitate instantly and unwaveringly towards good. But she wondered: ‚How can I protect something so perfect, without evil?‘

Die folgenden Bilder inszenieren das von Lady Gaga gesprochene Manifest punktgenau. Wir sehen die Geburt, die neue Rasse, die Geburt des Bösen usw. Hier sei nur eine kurze Aufzählung weiterer wichtiger visueller Momente angefügt: Das Sternbild GOAT, government owned alien territory, hat die schematisierte Form eines Uterus, die sich wiederum später in der Ausgangs­haltung der TänzerInnen wiederholt. Die Inszenierung der eigentlichen Geburt mit Lady Gaga als zugleich Gebärender und Geborener kombiniert eine schleimige, klebrige Ästhetik des Abjekten mit Taumel und Schwindel evozie­renden Drehbildern sowie der Darstellung von Schmerz, Gewalt und Lust im Akt des Auseinanderreißens bzw. der Spaltung, der sowohl die Mutter als auch die Neugeborenen betrifft und visuell als Kaleidoskop-Effekt umgesetzt ist. Hierbei wird mehrfach mit hartem Schnitt zwischen Naheinstellungen der gebärenden Vagina und Detailaufnahmen des schleimigen hellen ‚Kopfes‘ des/r Geborenen gewechselt. Effekt der kaleidoskopischen Aufspaltungen ist nicht zuletzt ein „explicit labial image“, wie es aus feministischer Kunst der 1970er Jahre bekannt ist, etwa Judy Chicagos The Dinner Party.[35] Der gewaltsame Prozess des Gebärens wirkt dank der tatkräftigen Hilfe einer latexbekleideten Hebamme auch wie eine Szene aus einem SM-Porno. Die ganze Sequenz endet mit den eher friedlichen Bildern von flatternden Schmetterlingen, die ihrerseits wieder ein Symbol der Transformation sind und in der US-amerikanischen Populärkultur seit Jonathan Demmes Silence of the Lambs ihre Unschuld für immer verloren haben dürften. In der kurz darauf gezeigten Geburt des Bösen hockt Lady Gaga auf einem riesigen, der Alessi-Zitronenpresse ähnlichen, aus schwarzen Blitzen montierten Gestell und zieht sich ein Maschinengewehr aus der Vagina – oder nutzt es als sex toy, das ist in diesem Fall kaum zu unter­scheiden bzw. geht ineinander über. Das alles geschieht vor einem im Hinter­grund fast verschwindenden Ultraschallbild, das in seiner Rundung an die Ultra­schall-Aufnahmen Schwangerer erinnert.

Mit Beginn der ersten Songverse von Born This Way variiert das Video sein visuelles Register und geht zunächst in ein nahezu klassisches Popvideo über – eine Sängerin, viele TänzerInnen, viel Haut. Allerdings fällt auf, dass es gezielte Abweichungen von den klassischen Ingredienzien gibt: Sängerin und Tanzende befinden sich in einem unmarkierten dunklen Raum, nicht in einer stilisierten Fabrik, Wüste, nächtlichen Straßenszene oder ähnlich beliebten Video-Settings. Die singende Frau im Bikini hat wie die Tänzer auch merkwürdig eckige und spitze Schulten und Wangenknochen, die Choreographie wird nur halb ernst ausgeführt, oder genauer: sie deutet sexy Posen eher an als sie einzunehmen. Die Tänzer und Tänzerinnen räkeln sich in beige-schwarzem Schleim, der auch an ölverseuchte Strände denken lässt. Ein männliches und ein weibliches Skelett in Anzügen tanzen und starren. Lady Gaga taucht insgesamt in sechs erkennbaren Rollen auf: als Mutter des Guten und des Bösen, als Skelett mit blassrosa Pferdeschwanz und Thierry Mugler-Anzug, als Tänzerin, als weiterer Kopf unter den Neugeborenen und schließlich als stilisierte Inkarnation einer Mischung von Madonna (Zahnlücke) und Michael Jackson (weiße Handschuhe) im Nebel, mit Tränen.

Die Verbindung von Pop und Morbidität, wie sie in der Figur des Skeletts auftaucht, ist spätestens seit Michael Jacksons Song und Video Thriller von 1983 gängig. Allein hier wird nicht der Teenie-Grusel der frühen 1980er mit seinen kreischenden Girls und heilbringenden Jungfrauen ins Bild gesetzt, und auch nicht der eher viktorianisch inspirierte Vampirismus-Kult der Gegenwart, sondern eine Ästhetik der graduellen Abweichung und Auflösung, Über­schreitung und Übertreibung von üblicherweise als schön empfundenen Körpern und Bildern. Kritiker haben dieses gezielte Vorgehen, das Gaga in allen ihren öffentlichen Auftritten praktiziert, als subversiv bezeichnet. Lady Gaga hat diese Vokabel zurückgewiesen: „We don’t see it as subversive. We think of it as beautiful.“[36] In der Gaga-Welt ist das Abjekte, das Groteske, das Hässliche schön geworden – es geht um eine Ausweitung des Konzeptes von Schönheit im Zen­trum des Mainstream.

Womöglich ist diese Strategie der Ausweitung und Aufweichung der Normbereiche des Schönen auch in der Musik wiederzufinden, das lässt sich zumindest über die ambivalente Rezeption der Musik kurz andeuten. In der deutschen Popmusik-Kritik ist es nahezu Konsens, dass die Musik Lady Gagas aus einer zielgruppengenauen kulturindustriellen Kalkulation heraus entsteht, die für jeden etwas dabei hat und deshalb möglichst massenkompatibel sei: „Kirmestechno“ ist das Wort, das dafür benutzt wird.[37] Diedrich Diederichsen attestiert der Komponistin und Texterin Gaga darüber hinaus ein Talent zur großen Hymne. Für den Ex-Spex Chefredakteur Diederichsen ist die Hymne jedoch eher verdächtig, er schreibt von „rammdösig großen Hymnen für Unter-fünfjährige und sentimentalen Nachteulen-Schleim“, „Hymnenschleim“, von beulenden Blasen ist die Rede, von „Alco-Tanz-Pop“, von trüben Gewäs­sern und musikalischem „Gebräu“.[38] Ganz unabhängig von der Frage, ob diese Kritik zutreffend ist oder nicht, auffällig ist, dass sie sich des gleichen Bildfeldes (Schleim) bedient, das im Video visuell umgesetzt – und genossen – wird.

Der Text bildet die dritte Spur, die für eine Analyse des Manifests zu berücksichtigen ist. Natürlich kann man hier versuchen, nach einer Aussage zu fahnden, es stellt sich aber schnell heraus, dass eine hermeneutische Lektüre eher unergiebig ist. Das liegt zum einen am Genre. Das künstlerische Manifest ist ja generell auf die Dimension des Performativen verpflichtet – das gilt für Dada wie für Gaga. Ihr Manifest ist explizierter Unsinn im Wortsinn, insofern Widersprüchliches verknüpft und nicht in eine homogene Aussage überführt werden kann: ein Ineinander von mythischer Verklärung eines ewigen mütterlichen Ursprungs, der Vorstellung eines Multiversums, von Gut und Böse als Elementen einer unausweichlichen Dialektik, der Beginn des Beginns einer neuen Rasse der Freien. Magnificent and Magic.

Und monströs. Was den Unsinn des Manifestes trägt, ist die durch den Titel vorgegebene Monster-Rhetorik: Manifesto of Mother Monster, die das Manifest als Fortführung von und Anknüpfung an die durchgehaltene Monster-Konstruk­tion markiert: die zweite LP Lady Gagas hieß The Fame Monster, sie adressiert ihre Fans als „little monsters“, und nannte ihre Tournee Monster Ball Tour, bei ihren Shows zeigt sie einen Einspielfilm namens Manifesto of Little Monsters.[39] Laut Gagapedia, der Lady-Gaga-Wikipedia, waren es die Fans, die sie zuerst als Mother Monster, Mommy Monster, Mama Monster oder Momma Monster bezeichneten und damit die Monster-Rhetorik zu einem internen Kommuni­kations-Code mit eigener Gestik machten, bei dem die zur Kralle geformte erhobene Hand als Erkennungszeichen dient.

Gagas Interesse am Monströsen datiert jedoch vermutlich weiter zurück als diese Attribuierung durch Fans. Als Undergrad-Studentin der Tisch School of the Arts (NYU) schrieb sie ein kurzes assignment, das zur Erläuterung des Umgangs zeitgenössischer Künstler mit Nacktheit auf einen Essay Michel de Montaignes zurückgriff. Montaignes Aufsatz trägt in der englischen Über­setzung den Titel „Of a Monstrous Child“. Er schildert darin u.a., wie ein siame­sisches Zwillingspärchen zur Schau gestellt wird. Lady Gaga, oder vielmehr deren Darstellerin Stefanie Germanotta, referiert: „Through a scenic description of a deformed child, Montaigne uses the different shapes and contours of the child’s deformed body in order to create a visual contrast between what is ordinary and what is unordinary.“[40] Für Montaigne gibt es jedoch eine Instanz die das, was Menschen als monströs, d.h. außer-ordentlich oder a-normal wahrnehmen, als schön empfindet – Gott. Germanotta zitiert Montaigne: „What we call monsters are not so to God, who sees in the immensity of his work the infinity of forms that he has comprised in it; and it is for us to believe that this figure that astonishes us is related and linked to some other figure of the same kind unknown to man.“[41] Der an dieses Zitat anschließende Satz Montaignes formuliert gewissermaßen das Credo von Born This Way: „Gott lässt in seiner grenzenlosen Weisheit nichts entstehen, was nicht gut, wohlgeordnet und all­gemeingültig wäre.“[42] Bei Gaga heißt das: „I’m beautiful in my way / ‚Cause God makes no mistakes.“ Mit dem Manifesto of Mother Monster setzt sich Lady Gaga an die Stelle Gottes, auf die Position einer quasi-göttlichen Mutter, die alle ihre kleinen Monster in ihrer ganzen Monströsität liebt. Sie inszeniert sich damit zugleich als eine Parallelfigur zur Freiheitsstatue. Wo diese jedoch als metaphorische „mother of exiles“ die müden, armen und geknechteten Massen zu sich in ein neues Zuhause einlädt, bringt Gaga Mutter- und Kinder-Monster im gleichen Akt einer künstlichen und als künstliche stilisierten Geburt aus sich hervor. Das Video wird dabei als visuelles Medium bis zu dem Punkt ausgereizt, an dem die Kunst ihren Maßstab, nämlich den Geschmack, verliert. Gagas Manifest und/oder Video sind im ästhetischen Wortsinn geschmacklos geworden, insofern sie nicht mehr an einem common sense des Schönen teilhaben. In diesem Sinne beruhen die Monströsitäten Gagas auf Deformationen, die sich als Bruch mit Gewohnheiten, als Verfahren der Verfremdung von Wahrnehmung verstehen lassen.[43] Die entsprechenden monströsen Bilder sind bekannt: der Funken sprühende BH, das Fleischkleid, die SM- und Fetisch-Kleidung, diverse Körperverformungen, die Puppen- und Roboterhaftigkeit der frühen Gaga, Mensch-Maschine-Kombinationen usw.

Lady Gaga erfüllt mit ihrer Kombination aus Gottesglaube, populärer Gegenwartskultur und Feier des A-Normalen ganz unironisch die Anfor­derungen, die Leslie Fiedler vor langer Zeit in seinem Kritik-Manifest „Über­quert die Grenze, schließt den Graben!“[44] an die Kunst der Gegenwart auf­gestellt hatte. Born This Way erfüllt Fiedlers Wunsch, einen synthetischen Mythos hervorzubringen, in dem sich Gegenwart, Kindlichkeit und Magie treffen.[45] Gaga ist „fähig, eine rohe magische Qualität in ihrem authentischen Kontext einzufangen, indem sie Mythen nicht aus Konversationslexika und gewissen Uraltklassikern schöpf[t], sondern aus der Gegenwart“, auch sie zieht „Senti­mentalität der Ironie vor […]“.[46]

Das Girl, kaugummikauend mit locker gebundenem rosa Pferdeschwanz, ist in dem mütterlichen Monster-Mythos nicht gänzlich verschwunden, es ist mumifiziert worden. Das Schlussbild des Manifesto of Mother Monster und/oder von Born This Way zeigt uns den Tod eines alten Traums, der mit dem Girl verknüpft war.[47]

 Gaga_Born this WayAbbildung 2: Screenshot aus dem YouTube-Video „Born this Way“ von Lady Gaga

 

Anmerkungen

[1]   „Pop ist offensichtlich ein Mädchen“, so Thomas Hecken, noch einen Schritt weitergehend. Thomas Hecken, Populäre Kultur: Mit einem Anhang „Girl und Popkultur“ (Bochum: Posth, 2006), S. 141. Zum Girl als globalem Phänomen vgl. The Modern Girl Around the World Research Group (Hg.), The Modern Girl Around the World: Consumption, Modernity, and Globali­zation (Durham et al.: Duke UP, 2008); zu Working Girls im 20. Jahrhundert vgl. Sabine Biebl, Verena Mund und Heide Volkening (Hg.), Working Girls: Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit (copyrights 21, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2007).

[2]   Den Begriff brachte zuerst Volker Hage ins Spiel, vgl. Volker Hage, „Ganz schön abge­dreht“, Der Spiegel 12 (1999), S. 244-6.

[3]   Meredith Haaf, Susanne Klingner und Barbara Steidl, Wir Alphamädchen: Warum Feminismus das Leben schöner macht (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008); Jana Hensel und Elisabeth Raether, Neue deutsche Mädchen (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008).

[4]   Vgl. Ingeborg Harms, „Charlotte Roche: Sexualität ist Wahrheit“, FAZ (14. Apr. 2008), <http://www.faz.net/artikel/C30712/charlotte-roche-sexualitaet-ist-wahrheit-30096915.html> (16. Nov 2012).

[5]   ‚Premiers matériaux pour une théorie de la Jeune-Fille‘, in Tiqqun. Organe conscient du Parti Imaginaire. Exercices de Métaphysique Critique (1999). Zwei Jahre später erschien Tiqqun, Premiers matériaux pour une Théorie de la Jeune Fille, (La Petite Collection, Paris: Fayard, 2001).

[6]   Tiqqun, Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens (Berlin: Merve, 2009).

[7] Lady Gaga, Born This Way (Video), US 2011, R: Nick Knight, Choreographie: Laurieann Gibson, Ausstattung/Mode: Nicholas Formichetti.

[8]   Vgl. Chris Molanphy, „Introducing the Queen of Pop: We Crunched the Numbers to Deter­mine Who Takes the Crown“, Rolling Stone (19. Juni 2011).

[9]   Alle Zitatnachweise aus diesem Text beziehen sich auf die in Fußnote 6 genannte Ausgabe.

[10]  Jenseits der französischen Autorengruppe und unabhängig davon gibt es auch ein US-ameri­kanisches Magazin namens Tikkun, das sich als Forum einer progressiven, religiösen Linken beschreibt. Es gibt „to heal, repair, and transform the world“ als mögliche Über­setzungen seines Titels an, vgl. <http://www.tikkun.org/nextgen/> (16. Nov. 2012).

[11]  In dem „Memento“ betitelten Vorwort wird dies expliziert: „Solange wir noch Spucke haben, immer wieder auf die Figur des Autors, auf die Geschlossenheit des Werkes spucken“, S. 8.

[12]  Die beiden Zeitschriften sind zum Download unter folgender Adresse zu finden: <http://bloom0101.org/tiqqun.html> [Website erloschen]. Auf derselben Homepage gibt es darüber hinaus weitere Texte in verschiedenen Übersetzungen.

[13]  Tiqqun, Theorie vom Bloom (Zürich: diaphanes, 2003); dies., Kybernetik und Revolte (Zürich: diaphanes, 2007). Die Abbildung findet sich auf der Homepage des Verlages unter folgender Adresse: <http://www.diaphanes.net/autor/detail/11> (16. Nov. 2012), inzwischen wurde das Bild entfernt.

[14]  Zitiert nach <http://www.diaphanes.net/autor/detail/11> [Link erloschen] (16. Nov. 2012).

[15]  Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, „Die ganze Welt ist eine Manifestation“: Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste (Darmstadt: Wiss. Buchg., 1997), S. 11.

[16]  Guy Débord, Die Gesellschaft des Spektakels [1967] (Cirica Diabolis 65, Berlin: Edition Tiamat, 1996); Michael Hardt und Antonio Negri, Empire: Die neue Weltordnung (Frankfurt a. M. et al.: Campus, 2002); Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927] (Tübingen: Niemeyer, 2006, 19. Auflage).

[17]  Gilles Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in ders., Unterhandlungen 1972-1990 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993), S. 254-62.

[18]  Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen (Frankfurt a. M.: Suhr­kamp, 1991).

[19]  Anhand der Beschreibung und Begriffsbildung lässt sich vermuten, dass es sich hierbei um das Konzept Roland Barthes handelt: Roland Barthes, Mythen des Alltags [1957] (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1964).

[20]  Stuart Ewen, Captains of Consciousness: Advertising and the Social Roots of the Consumer Culture [1976] (New York: Basic Books, 2001).

[21]  Ibid, S. 141 und 146.

[22]  Gegenüber der pauschalisierenden Abgrenzung gegen den Feminismus von Seiten Tiqquns ist festzuhalten, dass bestimmte Strömungen des Feminismus durchaus als Komplizen und/oder Agenten des Kapitalismus betrachtet werden können. Darüber gibt es allerdings inner­halb der feministischen und der Geschlechterforschung eine schon lange geführte, differenziert argumentierende Debatte. Zu aktuellen Zusammenhängen von Genderforschung, Populär­kultur und gegenwärtiger Wirtschaftspolitik vgl. Angela McRobbie, Top Girls: Feminis­mus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes (Geschlecht & Geschlecht 44, Wiesbaden: VS Verlag, 2010).

[23]  Auf die historische Beständigkeit dieser Topoi hat Andreas Huyssen schon 1986 hinge­wiesen: Andreas Huyssen, „Mass Culture as Woman: Modernism’s Other“, in Tania Modleski (Hg.), Studies in Entertainment: Critical Approaches to Mass Culture (Bloomington et al.: Indiana UP, 1986), S. 188-207.

[24]  Fast alle zehn Abschnitte beginnen mit der Formel „Das Junge-Mädchen als“ und setzen dann jeweils fort mit „…Phänomen“, „…Selbsttechnik“, „…soziale Beziehung“, „…Ware“, „…lebendes Geld“, „…kompaktes politisches Dispositiv“, „…Kriegsmaschine“, „…Unmöglichkeit“. Abschnitt neun ergänzt um die Formulierung „Das Junge-Mädchen gegen sich selbst“ und der letzte Absatz trägt die Überschrift „Das Junge-Mädchen beenden“.

[25]  Vgl. die Beiträge im Sammelband von Richard J. Cray II, The Performance Identities of Lady Gaga (North Carolina et al.: McFarland & Company, 2012) sowie die vielen Kurz­analysen zu Lady Gagas Auftritten, Videos und sonstigen kulturellen Äußerungen auf <http://gagajournal.blogspot.de/> (16. Nov. 2012).

[26]  Judith Jack Halberstam, Gaga Feminism (Boston: Beacon Press, 2012).

[27]  Auch über Madonna lassen sich weitere und andere Geschichten erzählen. Stellvertretend für die zahlreichen Sammelbände, Aufsätze und Monographien sei hier auf einen Text ver­wiesen, der sich der wenig beachteten Mutter-Figuration annimmt: Britta Herrmann, „Sex, Erotika, Mutterschaft: Madonnas mediale Strategien des Perversen“, in Bettina Bannasch und Stephanie Waldow (Hg.), Lust? Darstellungen von Sexualität in der Gegenwartskunst von Frauen (Fink: München, 2008), S. 243-67.

[28]  „‚Ihr großer Vorteil besteht in ihrer vollkommenen Durchschaubarkeit…‘: Das klärende Gespräch über Lady Gaga“, Jan Kedves und Oskar Piegsa im Interview mit Judith Jack Halberstam, Victor P. Corona, Georg Seeßlen, Kate Durbin und Meghan Vicks, Spex (Juli/August 2011), S. 36-43, S. 40. Hervorhebungen im Original.

[29]  Vgl. dazu <http://www.queer.de/detail.php?article_id=14683&pmv_nid=Nwsl> (16. Nov. 2012); und hier [Link erloschen] ; eine Video-Aufzeichnung der Tanzperformance ist zu sehen im Blog von Perez Hilton unter: <http://perezhilton.com/2011-08-26-a-barbarian-flash-mob-baptizes-a-fake-marcus-machmann-to-lady-gagas-born-this-way#.To1uVXNwDbk> [Link erloschen] (16. Nov. 2012).

[30]  <http://www.billboard.biz/bbbiz/industry/digital-and-mobile/news/lady-gaga-born-this-way-cover-story-1005041172.story> (16. Nov. 2012).

[31]  Vgl. dazu ausführlicher: Willow Sharkey, „Manifesting Love: ‚Born This Way‘ and Surrealist Art„.

[32]   Meghan Blalock, „2011: Gagalations“, <http://gagajournal.blogspot.com/search/label/
BORN%20THIS%20WAY?updated-max=2011-03-02T20%3A51%3A00-08%3A00&max-results=20
> (16. Nov. 2012).

[33]  Die gesamten im Video zu sehenden Kleidungs- und Schmuckstücke stammen von ver­schiedenen DesignerInnen, die der internationalen Mode-Avantgarde zuzuordnen sind. Der mühsam zu beschreibende Kopfschmuck etwa wurde von Alexis Bittar entworfen. Vgl. Vena Jocelyn, „Lady Gaga’s Born This Way Fashions Decoded“ (2. März 2011), <http://www.mtv.com/news/articles/1659043/lady-gaga-born-this-way-fashion.jhtml> (16. Nov. 2012).

[34]  Vgl. dazu Chris Hershey-Van Horn, „Apotheosis of the Queen Mother: The Virginal Monster„.

[35]  Vgl. dazu Aviva Dove-Viebahn, „Pop’s Diva Daughter as Primal Mother“, <http://msmagazine.com/blog/blog/2011/03/03/pops-diva-daughter-as-primal-mother/> (16. Nov. 2012).

[36]  Lady Gaga im Interview mit John Norris bei Noise Makers On Noise Vox (2009), vgl. <http://www.youtube.com/watch?v=CSme1hbERdU&feature=results_video&playnext=1&list=PLA8DD344E8BC811C1> [Video nicht mehr verfügbar] (16. Nov. 2012).

[37]  Diedrich Diederichsen, „Lady Gaga: Ich will deinen Whiskey-Mund“, Der Tagesspiegel (25. Mai 2011), <http://www.tagesspiegel.de/kultur/ich-will-deinen-whiskey-mund/
4213554.html
> (16. Nov. 2012).

[38]  Ibid. Zum Zusammenhang von Kitsch und Klebrigkeit als konstitutiver Gegenpol der Moderne vgl. Dagmar Buchwald, „Suspicious Harmony: Kitsch, Sentimentality and the Cult of Distance“, in Winfried Herget (Hg.), Sentimentality in Modern Literature and Popular Culture (Tübingen: Narr, 1991), S. 35-57.

[39]  <http://ladygaga.wikia.com/wiki/Monster_Film> (16. Nov. 2012).

[40]  Stefani Germanotta, „Reckoning of Evidence. Germanotta (1 Nov. 2004, Assignment No. 4)“, <http://ladygaga.wikia.com/wiki/Reckoning_of_Evidence> (16. Nov. 2012). Das Manuskript des assignments kursiert im Netz und wurde auch in Rezensionen zu und Porträts über Lady Gaga erwähnt. Es lässt sich wohl nicht ausschließen, dass es selbst Teil der inszenierten Monster-Rhetorik ist, als deren Hintergrund es oben erläutert wird. Aber selbst in diesem Fall wäre es signifikant, dass Lady Gaga hier auf Montaigne und dessen Gottesbezug zurückgreift.

[41]  Michel de Montaigne, „Of a Monstrous Child“, in Philipp Lopate (Hg.), The Art of the Personal Essay (New York: Anchor Books, 1995), S. 57-8. In deutscher Übersetzung: „Was wir Mißgeburten nennen, sind für Gott keine, da er in der Unermesslichkeit seiner Schöpfung all die zahllosen Formen sieht, die er darin aufgenommen hat. Ich halte es für durchaus denk­bar, dass jede uns als verwunderlich in die Augen springende Gestalt einer anderen gleicher Art entspricht, die dem Menschen verborgen bleibt.“ Michel de Montaigne, „Über ein mißge­borenes Kind“, in ders., Essais, (Frankfurt a. M.: Eichborn, 1998), S. 352-3.

[42]  Ibid., S. 353.

[43]  In diesem Punkt der Wahrnehmungsirritation durch Verfremdung entsprechen die visuellen Inszenierungen einem Kunstbegriff, wie ihn die Russischen Formalisten für die Literatur beschrieben haben, vgl. Viktor Šklovskij, „Die Kunst als Verfahren“, in Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa (München: Fink, 1969), S. 3-35.

[44]   Leslie Fiedler, „Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne“ [1968/9], in Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte zur Post­moderne-Diskussion (Weinheim: VCH, 1988), S. 57-74.

[45]  Fiedlers Beispielgenres für diese Mischung waren Western, Science Fiction und Porno. Gaga nutzt das Pop-Video.

[46]  Ibid., S. 69.

[47]   Es zeigt auch den Horror des Teenager-Daseins der Gegenwart, ohne ihn zu pathologisieren: Wie die künstlich hervortretenden spitzen Wangen- und Schulterknochen kann das Skelett auch als eine drastische Verkörperung des hungernden anorektischen Körpers gesehen werden.

 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Universitätsverlags Winter.

Weitere Hinweise zum Sammelband „Manifeste“, in dem der Aufsatz zuerst erschienen ist, hier.

Wenn Sie den Aufsatz im wissenschaftlichen Zusammenhang zitieren wollen, benutzen Sie bitte die Buchfassung.

 

Dr. Heide Volkening ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für neuere Deutsche Literatur und Literaturtheorie der Universität Greifswald.