Kleine Artikelrevue Januar
von Thomas Hecken
2.2.2014

Thema: Internetkritik (besser: der Kühlschrank-Indikator)

Zum Höhepunkt und baldigen Schluss des Börsen-Hypes rund um Internetfirmen fiel mir Ende des letzten/Anfang des neuen Jahrtausends ein recht häufig angeführtes Beispiel auf. In starkem Kontrast zum Pathos der neuen Milleniums-Zahl war es höchst prosaisch. Es ging um den vom Netz erfassten Kühlschrank. Lieferfirmen sollten neue Waren anliefern, sobald sie automatisch die Nachricht ›vom Kühlschrank‹ erhalten hatten, Milch oder Butter sei bald verbraucht.

Anschaulich sollte das Beispiel zeigen, wie groß die Möglichkeiten des E-Commerce seien, und damit den Wert vieler frisch börsennotierter Internetfirmen rechtfertigen. Das amüsante Beispiel des ›intelligenten‹ Kühlschranks vor Augen, hätte es für jeden Anleger eigentlich nur eine Konsequenz geben dürfen: sofortige Liquidation der Wertpapierbestände. Wie bekannt, geschah dies nicht bzw. erst nach und nach unfreiwillig im Zuge des langgezogenen Crashs der Jahre 2000-2002, bei dem viele Internetfirmen mindestens 90% an Marktkapitalisierung verloren.

Einige Jahre war es dann vergleichsweise ruhig, die meisten Firmen gingen ein oder verloren an Bedeutung, nur wenige kamen an die damals erzielten Aktienkurse wieder heran oder übertrafen sie sogar (wie vor allem Amazon). Mittlerweile haben die Debatten um Internetfirmen wieder den alten dramatischen Ton zurückgewonnen. Diesmal geht es aber nicht mehr um unerfindliche Börsenwerte, sondern um total bedrohte politische und kulturelle Werte. Google und Co. könnten unser Leben komplett erfassen und überwachen, um uns – ja, was eigentlich? Auf Dinge hinweisen, die uns nach den Erfahrungen unserer bisherigen Kauf- und Rezeptionspraxis ebenfalls zum Kauf animieren oder unsere Aufmerksamkeit absorbieren könnten? Das wäre ja etwas völlig Neues in der kapitalistischen Marktwirtschaft!

Für den Grad der Aufregung bewährt sich als Messinstrument wieder das Kühlschrank-Beispiel. Evgeny Morozov hatte es bereits recht früh im Angebot: »intelligente Kühlschränke, intelligente Schuhe, sogar intelligente Mülltonnen, die unermüdlich Daten über uns sammeln“, bereiten ihm unermüdlich tiefe Sorge (Interview mit »Der Spiegel«, 30/2013).

Kulturkritiker Byung-Chul Han weiß als fleißiger Feuilletonleser (hoffentlich nur auf Papier) nun auch Bescheid: »Das Internet der Dinge vollendet gleichzeitig die Transparenzgesellschaft, die ununterscheidbar geworden ist von einer totalen Überwachungsgesellschaft. […] Der Kühlschrank etwa weiß Bescheid über unsere Essgewohnheiten.« (»Im digitalen Panoptikum«, »Der Spiegel«, 2/2014, S. 106; der Beitrag kommt in einigen Wochen hinter der Paywall des »Spiegel« hervor und steht dann im Netz im Spiegel-Archiv für alle durchsuchbar; ob Han das wusste?)

Nur Dietmar Dath hat in seinem Bemühen, zu jedem Feuilletongegenstand zwischen Arno Schmidt und Buffy eine Meinung und eine Kopfnote beizusteuern, den Kühlschrank nicht nötig. Bei ihm ist die Kälte schon überall: »Ein Junge verschiebt am Rechner digitale Tonklötze in einem Musikprogramm und komponiert so eine simple Kindermelodie. Sie wird ein Requiem auf ihn selbst werden, aber das weiß er noch nicht. […] Eine junge Frau erzählt drei Freundinnen in der Schulkantine von einer Katastrophe aus ihrem Familienleben. Die Mitschülerin links von ihr hält den Blick gesenkt, man könnte meinen, aus Betroffenheit. Dann summt ihr Handy, auf das sie geschaut hat, und sie unterbricht die Beichte der Nachbarin mit der Nachricht von einer Party-Einladung. Die andere, die sich aussprechen wollte, sieht sie entgeistert an, spuckt ihr ins Gesicht und geht – eine der besten Szenen in einem Film [Disconnect]«, in dem Dath das »beschädigte, angefressene, von Auflösung bedrohte Private« vortrefflich aufgezeigt sieht. (»Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar«, »FAZ«, 28.1.2014)

Einen derartigen Kitsch habe ich ungefähr seit den Predigten unseres reaktionären, aber (bzw. und) bildungsbeflissenen Pfarrers nicht mehr gehört. Das war in den 1970er Jahren. Ich setzte mich in die Kirche mit 13 oder 14 dann nicht mehr zu meinen Eltern, sondern weit nach hinten, um spätestens vor der Predigt die Kirche zu verlassen und auf den nahegelegenen Fußballplatz zu gehen. Am Ende der Messe stand ich wieder am Kirchportal parat, um meinen Eltern meine komplette Andacht zu demonstrieren. Ich kann das hier jetzt im »digitalen Panoptikum« beichten, weil meine alten Eltern keinen Internetzugang besitzen. Hoffentlich sagt es ihnen Google nicht.