Empire strikes back: Rezension zu Hubert Winkels (Hg.), »Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe. Die Diskussion um ›Imperium‹ und der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2012«
von Sven Gringmuth
2.2.2014

Vision einer radikalen Antimoderne

Als die ›Debatte‹ um Christian Kracht ihrem Höhepunkt entgegen ging, traf ich ihn kurz. Irritierend freundlich wirkte Christian Kracht, als ich in der Kulturkirche in Köln-Nippes neben ihm stand. Er hatte eben, vor vollem Hause, aus seinem letzten Roman, »Imperium«, gelesen. Nun blickte er von schräg unten, Desinteresse in lähmende Freundlichkeit transformierend, zu mir auf: »Doktor Eulenberg? Sind Sie das?«  –  »Mehr oder weniger. Es ist eine Art… Spitzname könnte man sagen«  –  »Oh, dann schreibe ich den ›Doktor‹ auch aus…«. Er signierte das Werk, lächelte, nickte.

Der nächste, die nächste. Vor mir: Eine Freundin, mit der ich die Lesung besuchte. »Das Titelbild erinnert ja an die »Tim & Struppi«-Comics… Ist das so gewollt? Absicht?« Ja, das ist es – durchaus. Er erklärte kurz, nickte, lächelte. Weiter ging es. Ob er noch gelächelt hätte, wenn sie ihr Interesse näher hätte erläutern müssen? Sie schrieb zu diesem Zeitpunkt ihre Abschlussarbeit über Ausdrücke faschistischer Ästhetik und rassistischer Weltsicht in Hergés Comics.

Dass die Lesung ausverkauft war und die ›lit.Cologne‹ ihren damaligen ›Stargast‹ derart präsentieren konnte, dürfte zweifelsohne auch an der »Spiegel«-Rezension von Georg Diez und der anschließenden Diskussion um den »Türsteher der rechten Gedanken« (Diez, S. 38) gelegen haben. Hierzu – in Köln, wie bei der Lesung in Leipzig zuvor – kein Wort. Kracht heizte die Debatte zunächst an – indem er schwieg.

Die Verkaufszahlen gingen derweil in die Höhe, Feuilletonchefs applaudierten oder riefen Zeter und Mordio. Man übertraf sich in textinterpretativen Kunstgriffen, um dieses oder jenes zu beweisen – Nazi oder Nicht-Nazi, langweiliger Sermon oder bester deutschsprachiger Roman seit langem – und/oder vollzog detailverliebt die sprachlichen Kunst-/Missgriffe des Christian Kracht nach, der sich selbst darauf berief, dass er lediglich den Stil eines Erich Kästner habe imitieren wollen.

Die Debatte um Christian Kracht und »Imperium« bewies dabei vor allem eines: Die Eigentümlichkeit des deutschen Feuilletons und die energische Cleverness eines Literaten, der durch den Erfolg der literarischen Comedy (lies: Popliteratur) in Deutschland eines gelernt und gleichsam verinnerlicht hat: Die Choreographie der medialen Inszenierung.

Die Aufregung legte sich (mehr oder weniger…), nachdem Christian Kracht den Wilhelm-Raabe-Preis 2012 verliehen bekam und andere Dinge in den medialen Fokus rückten. In der Retrospektive scheint dies alles ein Sturm im Wasserglas, und Hubert Winkels selbst, der nun die  ›Diskussion‹ in einem  ›Suhrkamp-Sonderdruck‹ (seltsam genug…) zusammengefasst und dazu die relevanten Rezensionen, Essays, Erklärungen versammelt und abgedruckt hat, stellt diese im Vorwort der Skandalisierung von Helene Hegemanns  »Axolotl Roadkill« als Vergleichsgröße zur Seite. Das ist also die Dimension.

Das meiste, was man in den Rezensionen zu Krachts »Imperium« seinerzeit lesen durfte, ist dabei ohnehin geschenkt. Es sind so unglaublich banale Einsichten (»…weil das Leben ohne Liebe dunkel und öde ist« schrieb Michael Sailer in »konkret« 4/12, und »Engelhardt wird von den Menschen wiederholt enttäuscht«, wusste Leif Randt in »Spex« 03-04/12), dass man beinahe wie der Hauptprotagonist des Romans, August Engelhardt, sich ein Stück Fleisch aus dem eigenen Fuß reißen mag – freilich aus Verzweiflung, nicht aus Hunger oder esoterisch-verklärter Weltsicht. Womit wir beim Thema wären: Worum geht es überhaupt in Krachts Roman und weshalb die Aufregung? Michael Wiederstein schrieb im  »Schweizer Monat« (3/12) die Story zusammenfassend:

»Erzählt wird die Geschichte des Nürnbergers August Engelhardt, der 1902 in Herbertshöhe, Deutsch-Neuguinea, eintrifft. Engelhardt ist Kokovore, er glaubt an die Göttlichkeit der Kokosnuss, an ihre heilende und lebenspendende Kraft. Der Aussteiger kauft eine Insel, dort zieht er eine Kokosplantage hoch, beschäftigt Ureinwohner, ohne sie zu bezahlen, und produziert allerhand Kokosprodukte, für die nirgends auf der Welt eine Nachfrage besteht. Dennoch: innerhalb kürzester Zeit findet er Bewunderer in industrialisierungsmüden Zirkeln und propagiert mit beachtlichem Erfolg seinen ›Sonnenorden‹. Der besteht zunächst nur aus ihm selbst, was sich aber schon bald ändert und für Ärger in der Kolonie sorgt (…)«.

Was nach einer »Krachtschen Überblendung« klingt, »ist aber tatsächlich eine weitgehend historisch verbürgte Biographie aus der Blütezeit der Lebensreformbewegung« (ebd.). In der Tat: August Engelhardt und sein Glaube an das Göttliche der Kokosnuss, sein wahnhaftes Sendungsbewusstsein rund um den Kokovorismus sind historisch verbrieft. Die meisten Charaktere, die im Buch auftauchen, haben wirklich gelebt « Daten und Zahlen stimmen, auch die BRT des Dampfers ›Prinz Waldemar‹  können mithin jederzeit überprüft werden.

Soweit, so langweilig. Beachtenswert wird »Imperium« tatsächlich erst, wenn man die Metaebene (die Kracht selbst ja auch keineswegs bestreitet (man vergleiche die eindeutigen Passagen im Buch und die Aussagen im Interview mit Dennis Scheck im ARD-Literaturmagazin »druckfrisch«; 03/12) näher betrachtet. Neben August Engelhardt ist nämlich eine zweite Figur dauerhaft präsent – Adolf Hitler.

»So wird nun stellvertretend die Geschichte nur eines Deutschen erzählt werden, eines Romantikers, der wie so viele dieser Spezies verhinderter Künstler war, und wenn dabei manchmal Parallelen zu einem späteren deutschen Romantiker und Vegetarier ins Bewusstsein dringen, der vielleicht lieber bei seiner Staffelei geblieben wäre, so ist dies durchaus beabsichtigt und sinnigerweise, Verzeihung, in nuce auch kohärent« (Kracht, Christian: Imperium. Köln, 2012, S. 18 f.).

Vielleicht lieber? Hoppla! Oder auch nicht? Der Kampf der beiden Romantiker gegen die westliche Dekadenz, gegen Aufklärung, Rationalismus und den weltweiten Durchbruch des kapitalistischen Vergesellschaftungssystems geht tatsächlich in eins – keine Frage! Aber fehlt da nicht noch was? Selbstverständlich! »Waren nicht die dunklen Rassen den weißen um Jahrhunderte voraus?« (ebd., S. 38). Natürlich! Auch ein plumper Kult des Primitiven, ein archaisches Raunen durchzieht Engelhardts Denken und verweist auf eine, Faschismus wie Nationalsozialismus inhärente, sozialdarwinistische Ideologie-Komponente.

»…ach, warten wir doch einfach ab, bis sie in äolischem Moll düster anhebt, die Todessymphonie der Deutschen. Komödiantisch wäre sie wohl anzusehen, wenn da nicht unvorstellbare Grausamkeit folgen würde: Gebeine, Excreta, Rauch« (ebd., S. 79)

Die Krachtʼschen Andeutungen können provozieren oder langweilig sein, je nach Standpunkt (ein wenig schielt er gewiss auch in Richtung des von ihm verehrten Jonathan Littell…), aber das ist und war in der auf den Roman folgenden Diskussion nicht der Punkt und das macht auch niemanden zum Halb- oder Dreiviertel-Nazi, denn wir sprechen über Literatur, Kunst mithin. Und die hat nun mal »nicht die Aufgabe (…) die Menschheit zu verbessern (…). Das muss die Menschheit schon selber tun; wenn sie dabei auch noch die Kunst verbessern kann, hat es sich doppelt gelohnt« (Dath, Dietmar: Das mächtigste Feuer. Die Kriegsfantasie als Nukleus von Moderne und Gegenmoderne in Pop oder/und Avantgarde; in: Büsser, Martin u.a: testcard#9 – Pop und Krieg. Mainz, 2000).

Lassen wir uns dennoch einmal auf das Spiel mit dem Namen Literaturwissenschaft ein. Fragen wir, mit Georg Diez und Thomas Assheuer, deren Beiträge in Winkels Band (wieder-)abgedruckt sind: Wer spricht? Autor oder Protagonist? Kracht oder Engelhardt? Oder ein Erzähler aus dem Off? Wenn ja, aus welcher Position genau? Einer überhistorischen? Und: Was hat er uns zu sagen?

Georg Diez: »Wer spricht da? (…) Wer denkt so? Durch den schönen Wellenschlag der Worte scheint etwas durch, das noch nicht zu fassen ist. Das ist die Methode Kracht. (…) [Er –S.G.] kann sich da leicht in seinen Literaturgewittern verstecken« (S. 31 ff.). Klamme rhetorische Fragen zur Überlebensgröße aufgebläht. Thomas Assheuer hingegen liefert  einen stichhaltigeren interpretativen Ansatz:

»Schon die Stimme des Erzählers ist verdächtig, mal tönt sie ironisch, mal sehr vernünftig, mal komödiantisch verschmitzt. Aber wer spricht hier eigentlich? Ein gnostischer Sonnenanbeter wie Engelhardt? Keineswegs. Der Erzähler gibt sich ganz offen als Zivilisationsliterat zu erkennen (›Wir Nichtgnostiker‹), als Angehöriger jener vernünftigen, siegreichen, fortschrittlichen und christlichen ›Moderne‹, der sich der verrückte Engelhardt – ›unser Sorgenkind ‹ – leider habe entziehen wollen. Das ist ein gut platzierter Wink. Ironisch gibt er dem Leser zu verstehen, dass Ironie nicht das Formprinzip des Romans ist, sondern nur das Formprinzip der im Roman erzählten Geschichte – also der Geschichte vom Sieg des Coca-Cola-Imperiums über den deutschen Spinner Engelhardt. Die Ironie heißt das, ist der Jargon des Hegemons. Kracht benutzt hier einen schönen romantischen Kniff. Er lässt die Ironie ironisch werden, sie wendet sich gegen sich selbst (…) Denn wenn Ironie die Herrschaftssprache der westlichen Sieger ist, dann vertauschen sich die Vorzeichen und dann muss der Leser fragen: Sind die Verrückten gar nicht verrückt? Und sind die Zivilisierten die wahren Barbaren? (…) Dann ist nicht der Verlierer Engelhardt verrückt, sondern verrückt ist die siegreiche Zivilisation. (…) Die Händlermoderne frisst alles auf, am Ende sogar sich selbst…« (S. 72 ff.).

Führt man diesen Gedanken zu Ende, so lässt sich, mit Assheuer, feststellen: »Und wer leistet bei Kracht den finsteren Mächten Widerstand? Der eine ist natürlich der komische Engelhardt, der andere Adolf Hitler (…) Zu Recht skandalisiert er [Diez – S.G.], dass Hitlers Aufstieg als notwendige (…) Reaktion auf den Nihilismus des Westens erscheint. Solche Passagen jonglieren tatsächlich mit dem geistigen Besteck der Rechten, mit einem Denken, dass Deutschland zum Opfer der westlichen Moderne stilisiert, zum schuldig-unschuldigen Spielball auf der nihilistischen Bühne der amerikanischen Weltverfinsterung« (S. 74 f.).

Wo dieses Denken seine Wurzeln hat, dürfte klar sein – in der deutschen Romantik, jener Universalpoesie, die den deutschen Sonderweg geistig begründete: Die Wendung ins Innere. Wenn das politisch impotente Bürgertum Einigung und Republik nicht zu erkämpfen vermag, dann machen wir aus der Not eine Tugend. Die deutsche Seele, die deutsche Kultur – allen anderen weit überlegen, so das Credo.

Am deutschen Wesen sollte in Folge (nicht nur einmal) die ganze Welt genesen. Es trafen sich (politische) Romantik, Lebensreformbewegung – und später auch fanatische Rassisten und Antisemiten. Der Ordnungsgedanke des deutschen Kleinbürgertums gebar zudem einen stieren Fanatismus, der bis heute nachwirkt. Wenn ein Volk auf dieser Welt eine Mission hat, dann dieses.

Das kann wahlweise sein: Mülltrennung, Ausstieg aus der Atomkraft, Vegetarismus, die Verhinderung eines zweiten Auschwitz oder die Rettung des Waldes. Lächerlich? Nur wenn man es aus westlicher Perspektive betrachtet. Und genau so eine Figur ist August Engelhardt (und – auf einer anderen Ebene – Adolf Hitler) bei Christian Kracht: Der (verhinderte) Romantiker, der Verlierer gegen die Zumutungen von Moderne und weltweiter Durchsetzung kapitalistischer Produktion, der Träumer – zum Schluss Fanatiker und (aus dem Handlungsverlauf unerklärlicherweise) Antisemit.

Es ist also ein romantischer Roman, in ironisch-gebrochener Erzählweise verfasst. Macht das aus Christian Kracht irgendetwas anderes als einen Autor? Ja und Nein. Nimmt man ihn hier beim Wort, so darf man feststellen, dass mit Kracht »antimodernes, demokratiefeindliches, totalitäres Denken« (Diez, S. 38) re-etabliert wird, beziehungsweise der Roman »gewiss (…) nicht von guten Demokraten [träumt – S.G.] (…) Durch die Totaldenunziation der Moderne soll ein Gefühl des Mangels entstehen (…). Wer auch das noch als Ironie verstehen will, der ist für Kracht vermutlich verloren« (Assheuer, S. 75 f.).

Und doch: Nimmt man Kracht nicht beim Wort, so bleibt eben alles »Ironie, Spiel, Provokation, lachhaftes Entertainment und kalkulierter Skandal. Krachts Botschaft lautet: Alles, auch er selbst, ist lächerlich«, so Sailer noch einmal »konkret«;  »Kracht spielt (…) ein teils amüsant ironisches (…) Spiel mit antiquarischen Versatzstücken«, so Iris Radisch in »Die Zeit« (S. 70).

Stichwort ›antiquarische Versatzstücke‹: Natürlich stiehlt (für die Freunde klassischer Kunstauffassung) oder sampelt (für die Poststrukturalisten unter uns) Kracht hemmungslos (bestenfalls kann er Pastiche reklamieren…). Engelhardts Reise in die Südsee ist meines Erachtens Célines Reise ins französische Kolonialafrika aus seiner »Voyage au bout de la nuit« (1932) nachgebildet. Sailer behauptet zudem, die Figur Engelhardts sei dem Comic-Roman »Südseeballade« (1983) von Hugo Pratt entnommen. Weitere Namen, die man an dieser Stelle guten Gewissens nennen kann: Hesse, Hamsun, Littell, London.

Georg Diez grub in seinem Artikel, zur Untermauerung seiner These, aber auch den Mailwechsel zwischen dem US-amerikanischen ›Künstler‹ David Woodard und Christian Kracht, »Five Years Vol. 1: 2004-2007«  (Hannover, 2011), aus und bezeichnete diesen als »in gewisser Weise Vorarbeit[] zu dem Roman Imperium«. Die Mails zeigten »die dunkle Seite des Werks, sie führen direkt ins Denken und Schreiben von Christian Kracht und sind von dem Roman nicht zu trennen« (S. 34 f.).

Auch ich habe, dankbar für diese Anregung, das beinahe 20 Euro teure Werk bestellt (neben vielen anderen Menschen – Diezʼ Hinweis wirkte ungemein verkaufsfördernd; den kleinen Hannoveraner Wehrhahn-Verlag wird es gefreut haben) und wurde nicht enttäuscht: Ein (sich zumindest so gerierender) Ästheto-Faschist und ein (meines Erachtens nach lupenreiner) Faschist unterhalten sich über alles, was so wichtig scheint in ihrer Welt – ein Blick ins angehängte Personenregister genügt beinahe: Elisabeth Förster-Nietzsche, Julius Evola, Francisco Franco, Jean Genet, Martin Heidegger, Guido von List, Horst Mahler, Timothy McVeigh, Josef Mengele, Benito Mussolini, Ernst Röhm, Gabriele DʼAnnunzio, Otto Skorzeny, Richard Wagner, Alain de Benoist, Martin Walser und Ernst Zündel geben sich die Ehre. Aber auch (nicht minder bedeutsam!): Osama Bin Laden, Nicolae Ceausescu, Kim Jong Il, Enver Hoxha, Josef Stalin, Muammar Gaddafi, Pol Pot.

Es scheint überhaupt nicht wichtig, auf welcher politischen Seite diese Menschen stehen – alleine wichtig ist, dass sie die Vision des Totalen teilen. Kracht hängt der Vision einer radikalen Antimoderne an, die sich, unter welchen Vorzeichen auch immer, als totalitäres Gebilde gegen das kapitalistisch-dekadente Gesellschaftsmodell des Westens in Stellung bringen soll. Das kann eine fiktive kriegskommunistische Schweiz (in Krachts Roman »Ich werde hier sein, im Sonnenschein und im Schatten«; Köln, 2008) ebenso wie ein im apokalyptischen Bürgerkriegstaumel versinkender Iran (im seinem vorigen Roman »1979«; Köln, 2001) oder das reale Ausleben phantastischer Weltherrschaftsphantasien eines irren Lebensreform-Deutschen in der kolonialherrschaftlich-aufgeteilten Südsee sein. Der permanente Ausnahmezustand – diese Idee fasziniert Kracht und nichts sonst.

Doch auch an diesem Mailwechsel schieden und scheiden sich die Geister. Abermals Provokation? Alles Mumpitz? »Zwei Nerds spielen bürgerliches Schreiben«, vermutete Thomas E. Schmidt in »Die Zeit«. »Wie weit kann man gehen, bis man eine draufkriegt, aus ästhetischen, politischen oder psychopathologischen Gründen«, sah Sailer als einziges Leitmotiv des Dialogs.

Was man bei ›Imperium‹ allerdings noch (mit einer ordentlichen Portion gutem Willen) als Spiel, Ironie, Provokation abtun kann, das geht hier schief, wenn Kracht Woodard seine Bewunderung für den toten niederländischen Rechtspopulisten Pim Fortuyn mitteilt (»Why I think Europe is worth living here«), Woodard mit seinem irren Projekt zur Förderung der deutschen Kolonie ›Nueva Germania‹ (in der auch KZ-Arzt Josef Mengele nach Kriegsende Unterschlupf fand) im paraguayischen Dschungel bis zum damaligen US-Vizepräsident Cheney vordringt, und er Kracht (begeistert wie über den Fund eines seltenen Schatzes!) drei unveröffentlichte Fotos der SS-Legende Otto Skorzeny sendet. Kracht kann schließlich nur mit Mühe und Not verhindern, dass Woodard einen Text über den Prozess gegen den Holocaust-Leugner Ernst Zündel in seinem Magazin »Der Freund« veröffentlicht (»While I like the style and certain parts a lot it is very antisemitic in tone«).

Ist das bloß Erzeugung ästhetischer Mehrdeutigkeit? Ausloten von politischen, ästhetischen Grenzen? Erweiterung des Diskurses? Ein Nebensatz aus dem Artikel von Schmidt ist es, der die gesamte Debatte um Christian Kracht und Imperium gewiss am trefflichsten zusammenfasst:

»Das Ganze ist eigentlich urkomisch, aber es ist nicht zum Lachen« (S. 78).

 

Bibliografischer Nachweis:
Winkels, Hubert (Hrsg.)
Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe. Die Diskussion um ›Imperium‹ und der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2012
Berlin 2013
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-07119-9
157 Seiten

 

Sven Gringmuth war Lehrkraft für besondere Aufgaben am Germanistischen Seminar der Universität Siegen.