Gangsta-Rap und nicht Gangster-Rap. Rezension zu Martin Seeliger, »Deutscher Gangstarap. Zwischen Affirmation und Empowerment«
von Kenneth Hujer
4.7.2013

Gangsta-Rap ist nicht irgendein Genre

»Man schreibt es im Übrigen ›Gangsta-Rap‹ und nicht ›Gangster-Rap‹.« So beendete Falk Schacht unlängst einen offenen Brief an die Bundeszentrale für politische Bildung, nicht ohne pointierend zu ergänzen: »Gangster sind auf der Straße und ticken Keta, Gangsta-Rapper stehen auf der Bühne und ticken im Takt.«

Schacht, seit Ende der 1990er Jahre einer der wichtigsten Rap-Journalisten in Deutschland, bezog sich auf einen Artikel, den die von der Bundeszentrale für politische Bildung verantwortete Medienplattform Fluter.de veröffentlicht hatte. Unter dem Titel »Rapper suchen ein Zuhause« wurde darin eine Bestandsaufnahme deutschsprachiger Rap-Musik versucht. Einerseits, so der Autor des Artikels, gebe es anspruchsvolle Künstler, »die Deutschrap wieder gesellschaftsfähig machen«, weil sie »über Liebe, Freundschaft und die Suche nach der eigenen Identität« rappen und damit »Chronisten eines Zeitgefühls« seien. Andererseits gebe es Gangsta-Rapper, deren »Mein-Block-Romantik« und textliche Schilderungen von »Drogengeschäften und Gewaltexzessen« ausgedient hätten.

An dieser Dichotomie störte sich Schacht derart, dass er sich zu besagtem offenen Brief veranlasst sah. »Da wird nur eine Art von Jugendlichen ernst genommen, während eine andere Art von Jugendlichen ausgeschlossen wird, und ihnen sogar jede Form von Kunstfertigkeit und Daseinsberechtigung abgesprochen wird.« Diese Stigmatisierung sei typisch, so Schacht, für die »bildungsnahe gutbürgerliche Mittelschicht und ihre Medienschaffenden.« Wie diese sei auch der Autor des genannten Artikels elitär und schlecht informiert – was nicht nur an dem bezeichnenden Schreibfehler deutlich werde. Elitär, weil er dem Gangsta-Rap jedwedes Vermögen abspreche, und schlecht informiert, weil deutschsprachiger Gangsta-Rap mitnichten ausgedient habe. Zum Beleg verweist Schacht auf die Genregrößen Farid Bang und Kollegah, deren gemeinsames Album im Februar 2013 auf Platz eins der Charts einstieg und inzwischen mit Gold ausgezeichnet wurde.

Der oberflächlichen und zugleich diskreditierenden Auseinandersetzung hält Schacht in seinem offenen Brief die Forderung entgegen, bisher weitgehend vermiedene Fragen zu stellen: »1. Warum rappen diese Jugendlichen über diese gewalttätigen und illegalen Dinge? 2. Welche sozialen Umstände sind dafür verantwortlich? 3. Warum hören so viele Jugendliche sich diese Musik an und feiern sie?« Und »4. Was sagt es über die Gesellschaft und die Medien aus, wenn sie diese Jugendlichen nur verurteilt und in keinen Dialog mit ihnen tritt?«

Ein im Berliner Posth Verlag erschienener Band des Soziologen Martin Seeliger widmet sich implizit ebendiesen Fragen. Unter dem Titel »Deutscher Gangstarap. Zwischen Affirmation und Empowerment« wird ausgehend von grundlegenden Ausführungen zur Hip-Hop-Kultur und deren Einbettung in popkulturelle und damit auch gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge versucht, die Eigenheiten des hiesigen Gangsta-Rap herauszuarbeiten, um ihn auf seine Potenziale hin zu untersuchen. Wie der Titel bereits andeutet, sieht Seeliger im Gangsta-Rap sowohl fortschrittliche als auch regressiv-affirmative Momente walten.

Gangsta-Rap ist nicht irgendein Genre. Gleich zu Beginn führt Seeliger den ehemaligen Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg an, dessen Plattensammlung eine Vielzahl von Musikstilen beherberge. Doch begeistert sich der Hobby-DJ und Pop-Eklektizist Guttenberg auch für Gangsta-Rap? Nein, meint Seeliger. Zwar habe sich »die subkulturelle Landschaft des deutschen Gangstarap besonders im Jahr 2010 […] ausdifferenziert«, weiterhin aber fehle ein notwendiges »Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz«. Dass der CSU-Politiker Guttenberg auf seiner Facebook-Seite unter dem Banner ›Lieblingsmusik‹ wie selbstverständlich notieren kann: »Von Hard Rock über Rock bis hin zu House und Soul. Das AC/DC Konzert in München war klasse!«, das Genre Gangsta-Rap aber notwendig jenseits dieser Aufzählung liegt, erklärt sich für Seeliger aus den »Bildwelten des Gangstarap«. Diese – so die zentrale These seines Buchs – seien »gesellschaftlich höchst voraussetzungsreich«. Der Grund: Sie seien zumeist eng mit der Repräsentation einer sozial prekären und randständigen Lebenswirklichkeit verflochten. Zwei Interpretationsweisen ergeben sich für Seeliger aus diesem Zusammenhang, die wiederum jenes Spannungsfeld aus »Affirmation« auf der einen und »Empowerment« auf der anderen Seite begründen.

So speise sich ein in der Bundesrepublik virulenter »Krisendiskurs um migrantische Männlichkeiten« – in dem ein Unbehagen gegenüber einer »neuen Unterschicht« mit einer zunehmenden »Ethnisierung entsprechender Deutungsmuster« verschmelze – nicht zuletzt aus den Bildwelten des Gangsta-Rap. »Der Gangstarapper als ›Sozialfigur‹ erscheint hier als adoleszenter Gewaltkrimineller mit Migrations- und ohne Bildungshintergrund, der die (vermeintlichen) Probleme ethnisch segmentierter Bevölkerungsteile […] zum Thema hat.« Als Projektionsfläche negativer Eigenschaften versinnbildliche die Figur des Gangsta-Rappers »ein Bündel hegemonialer Vorstellungen, die Vertretern dieser Bevölkerungsteile die Verantwortung für ihre eigene Problemsituation zuschreibt.« Darin gründet laut Seeliger das affirmative Moment des Gangsta-Rap, weil er indirekt zur Verhärtung sozialer Stigmatisierung beitrage.

Dem entgegen läuft der zweite Interpretationsstrang: Indem der Gangsta-Rapper mittels seiner künstlerischen Inszenierung als erniedrigtes und verächtliches Wesen zum erfolgreichen Geschäftsmann avanciere, setze er sich, so Seeliger, gegen die soziale Stigmatisierung erfolgreich zur Wehr und erlange gleichsam eine »männliche Hegemonie«. Der Begriff »Empowerment«, mit dem der Autor diese Position beschreibt, meint wohlgemerkt etwas vollkommen anderes als der psychoanalytische Terminus der Ich-Stärke. Um das Konzept der hegemonialen Männlichkeit verständlich zu machen, rekurriert Seeliger auf die intersektionelle Perspektive, von der er sich verspricht, dass sie der »Komplexität der Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit« Rechnung trägt.

Anhand der symbolischen Bezugspunkte Geschlecht, Ethnizität, Klasse und Körper bzw. Sexualität zeichnet er schließlich nach, wie die Bildwelten des Gangsta-Rap gegenwärtige Prinzipien hegemonialer Männlichkeit (wie Leistungsfähigkeit, Erfolg, sexuelle und körperliche Unverletzlichkeit, etc.) besetzen und daraus einen »legitimen Anspruch auf die Vetreterschaft hegemonialer Männlichkeit ableiten.«

Dass Seeliger am Ende seines Buchs weder der einen noch der anderen Interpretationsweise den Vorzug erteilt, vielmehr deren unmittelbare Verschränkung ausweist, wirkt keineswegs ernüchternd. Die Stärke seiner Arbeit liegt weniger in einer fundierten Schlussfolgerung, als vielmehr in der Fundierung beider Lesarten. Gerade die dafür notwendigen historischen Herleitungen der US-amerikanischen Hip-Hop-Kultur und im Besonderen ihrer Adaption in der Bundesrepublik sind überaus aufschlussreich – auch weil letztere in Engführung mit der westdeutschen Migrationsgeschichte nachvollzogen wird.

Obwohl Seeliger allerlei Grundlegendes einführt und zumindest manches dem Leser an anderer Stelle bereits begegnet sein dürfte, wird keines seiner Wörter zum ›modrigen Pilz‹. Der Autor beherzigt die lebensweltliche Erkenntnis, dass jeder Versuch einer exakten Wiederholung zum Scheitern verurteilt ist. Anstatt bloß historische Begebenheiten und wissenschaftliche Theoreme wiederzugeben, ordnet er bisherige Erkenntnisse neu, das heißt: spontan – gemäß seiner Forschungsabsicht.

Zu beanstanden ist einzig das Missverhältnis zwischen den grundlegenden Ausführungen und deren Anwendung auf den Gegenstand »deutscher Gangstarap«. An manchen Stellen wünscht man sich weniger didaktische Vorbereitung und mehr von Seeligers essayistischer Raffinesse, der es an Witz nicht mangelt.

Die einleitend genannten Fragen des Journalisten Schacht sind mit Seeliger folgendermaßen zu beantworten. Auf Grundlage eines gesellschaftlichen Krisendiskurses wird ein sozialschwaches, meist migrantisches Milieu seitens des »moralisch integren Mehrheitsdeutschen« stigmatisiert und delegitimiert. Ebendieser Krisendiskurs stellt wiederum »einen Pool kultureller Referenzpunkte für die Inszenierung der Sprecher dar«. Dadurch dass die Jugendlichen sich als die skandalisierten Sozialfiguren inszenieren, können sie zugleich eine Gegen-Hegemonie begründen. Möglicherweise dient diese gar ihrer Hörerschaft als »Ressource der Lebensbewältigung«. Dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft Gangsta-Rap größtenteils skandalisiert, erklärt sich aus jenem Krisendiskurs selbst: So findet sie im Gangsta-Rap den Beweis für alle ›Abarten‹, die sie zuvor imaginierte.

Seeligers Verdienst ist zweifelsohne, dass er der deutschsprachigen Forschung wichtige Impulse gibt. Überhaupt ist Gangsta-Rap, ja Hip Hop allgemein im deutschen Sprachraum noch immer ein »stranger to academia«. Deswegen wird Seeligers Veröffentlichung für die Publikationen kommender Jahre sicherlich eine wichtige Referenz sein. Diesen ist zu wünschen, dass sie das vom Autor thematisierte Spannungsfeld noch weiter radikalisieren. Anstatt Emanzipation und Empowerment bloß in männlicher Hegemonie zu vermuten, die am Glücksversprechen des Marktes teilhaben lässt, ist immer auch nach einem Überschreiten aller Verhältnisse zu fragen, die jenen Chauvinismus der (deutschen) Mehrheitsgesellschaft allererst möglich machen.

Walter Benjamin spricht in seinem berühmten Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« von der »heimliche[n] Bewunderung des Volkes« für »die Gestalt des ›großen‹ Verbrechers«. Wenngleich seine Zwecke abstoßend seien, fasziniere das »bloße Dasein [der Gewalt] außerhalb des Rechts«, so Benjamin. Liest man die Figur des Gangsta-Rappers als vorgenannten Verbrecher, ist zu erahnen, welche heimliche Sehnsucht das Genre Gangsta-Rap neben Tarantinos Filmen kanalisiert. »Die Sympathie der Menge gegen das Recht.«

 

Bibliografischer Nachweis:
Martin Seeliger
Deutscher Gangstarap. Zwischen Affirmation und Empowerment
[Schriften zur Popkultur; Bd. 9]
Berlin 2013
Posth Verlag
ISBN-13 978-3-944298-01-6
153 Seiten


Website von Kenneth Hujer.