Reeperbahn-Filme
von Hans J. Wulff
10.6.2013

Deutscher Sexfilm

Sicherlich gibt es eine Unmenge von Filmen, die in Hamburg spielen. Und eine große Anzahl sucht sich St. Pauli als eines der ältesten innerstädtischen Reviere aus, nahe am Hafen, bekannt durch die sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts ansiedelnden Amüsierbetriebe an der Reeperbahn und der Großen Freiheit. Im Krieg zum Teil zerstört, bald wieder aufgebaut, bis in die 1970er hinein ein Amüsierzentrum der Republik. Und gerade in dieser Phase zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1970er wurde St. Pauli zu einem der prägnantesten Handlungsorte des BRD-Krimis.

Im Stil der Reportage

Geradezu als Wegbereiter für die Welle muss Jürgen Roland gelten. 1925 in Hamburg geboren, nach dem Krieg einer der ersten deutschen Rundfunkreporter bei Radio Hamburg, spezielles Einsatzgebiet: St. Pauli. Anfangs der 1950er zum Fernsehen gewechselt. Mit Der Polizeibericht meldet (1953-58, insgesamt 26 Folgen) gründete er die wohl erste Reality-Serie des deutschen Fernsehens – in Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei. Er stellte Fälle aus den Polizeiakten mit Schauspielern nach und ließ die Filmstrips vom Hamburger Kriminaldirektor Carl Breuer kommentieren.

Die Polizeiberichten nachempfundene Serie Stahlnetz schloss sich 1958 an, das frühe Reality-Format zu einer Vorform des späteren deutschen TV-Krimis weiterentwickelnd. Die Mischung von Krimi und Lokalkolorit bestimmte auch Rolands Kinofilm Polizeirevier Davidswache (1964), der vierundzwanzig Stunden Alltag im Polizeirevier auf St. Pauli in fast naturalistischer Manier erzählt; im Zentrum steht ein Hauptwachtmeister, der seine Tochter vom Bahnhof abholen will, aber von einem Schwerverbrecher erschossen wird. Roland blieb dem Reportagestil auch in seinem nächsten St.-Pauli-Film Vier Schlüssel (1965) treu.

Der nach einem Roman von Max Pierre Schaeffer konzipierte Film erzählt von einem Bankraub, zu dem die Verbrecher die Schlüssel zum Safe auftreiben müssen; dabei kommt es zu mehreren Toten. Roland griff mit seinen Filmen Stilimpulse nicht nur seiner Fernseharbeiten auf, sondern auch des Neorealismus und einer ganzen Reihe sozialrealistischer deutscher Filme der Zeit (etwa von Georg Tressler oder Will Tremper). Erinnert sei auch an Francesco Rosis heute fast vergessenes Sozialdrama I Magliari (Auf St. Pauli ist der Teufel los, Italien 1959), der von einem Kleinkriminellen erzählt, den es auf die Reeperbahn verschlägt.

Hafenstadt-Melancholien

Gerade der der Reportage oder gar dem Dokumentarfilm verpflichtete Stil der beiden Roland-Filme hob sich aber scharf von der Mehrzahl der bisherigen St-Pauli-Filme ab. Den Zeitgenossen vielleicht am bekanntesten war das Melodram Auf der Reeperbahn nachts um halb eins (1954, Wolfgang Liebeneiner) mit Hans Albers und Heinz Rühmann: ein Matrose, der nach Jahren zurückkommt; eine Galopp-Diele auf der Reeperbahn, die sein bester Freund betreibt, kurz vor dem Konkurs; eine Tochter, in die sich der Protagonist verliebt; die ihrerseits aber in einen Reedersohn verliebt ist und sich schließlich als seine Tochter herausstellt – und er muss den Freund retten und verlässt die Stadt, ohne der Tochter seine Vaterschaft eingestanden zu haben. Das ist ein ganz anderes Hamburg als das der Roland-Filme, obwohl auch Liebeneiners Film großenteils vor Ort fotografiert wurde.

Unvergessen war sicher auch Helmut Käutners Große Freiheit Nr. 7 (1944) – ebenfalls ein Melodram, ebenso im Hippodrom spielend, ebenfalls von der Liebe eines Seemanns zu einer jungen Frau erzählend, die einen anderen liebt (diesmal einen Werftarbeiter); am Ende wird der Matrose wieder zur See fahren, er hat die Ersehnte verloren. Wegen der Bombenangriffe wurden die Dreharbeiten in Berlin und Prag durchgeführt, das Lokalkolorit blieb dennoch spürbar.

Die Geschichten vom Seemann, der seine Liebe nicht finden kann, sind auch anfangs der 1960er noch en vogue: Die verlogen-romantische Schlagerschmonzette Heimweh nach St. Pauli (1963, Werner Jacobs) mit Freddy Quinn etwa erzählt wieder eine Geschichte männlichen Verzichts – der Protagonist hatte einst Geld seiner Mutter beim Pferderennen verspielt, war nach Amerika geflohen, hatte dort Karriere als Schlagerstar gemacht, kommt zurück, versöhnt sich mit der Mutter und wird am Ende nicht weiter singen, sondern wieder auf große Fahrt gehen.

Die Anfänge der Reeperbahn-Filme

Dabei verändert sich in kurzer Zeit manches – St. Pauli wird zu einem Ort des Verbrechens, der Prostitution, der Rache und der Sühne. Das Remake des 1954er Hans-Albers-Films Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, das Rolf Olsen und Al Adamson 1969 verantworteten, nimmt einige signifikante Umstellungen in der Geschichte vor, auch wenn der Schluss das Geschehen melodramatisch wendet: Der Held kommt nicht mehr vom Schiff, sondern aus dem Gefängnis; er hat acht Jahre unschuldig gesessen, weil ihm sein Kompagnon einen Mord untergeschoben hatte; sein Ruf ist zerstört, er kann kein normales Leben mehr führen, beschließt, den wahren Täter zu überführen; er bekommt moralische Unterstützung von einem Mädchen, das sich später als seine Tochter herausstellt. Andere Filme nehmen Impulse aus Rolands Arbeiten auf. So fußt Mädchenjagd in St. Pauli (1965, Günter Schlesinger) auf einer realen Vorlage, ist aber nicht realistisch, sondern reißerisch orientiert – es geht um Rauschgiftschmuggel, Mord, Bordellbetrieb und Striptease.

Zu immer zentralerer Bedeutung gelangt das Themenfeld von Sexualität, Prostitution, Mädchenhandel. In einer Mischung von Krimi und Sexfilm erzählt St. Pauli Herbertstraße (1965, Ákos von Ráthonyi) von einer Bauerntochter, die nach einer Vergewaltigung bei den Zuhältern auf der Reeperbahn landet, bis ein engagierter Automechaniker sie befreit. Dem deutschen Sexfilm der Zeit zugerechnet wird St. Pauli zwischen Nacht und Morgen (1967) von dem französischen Regisseur José Bénazéraf. Er erzählt von einem Polizisten, der sich in eine Striptease-Tänzerin verliebt und korrumpiert wird; der Film ist mit diversen Nachtclub-Szenen und Striptease-Einlagen durchsetzt.

Der Handlungsort mancher solcher Filme ist gleich das Bordell. Die zwischen Sexfilm-Parodie und Militärklamotte irisierende Komödie Das gelbe Haus im Pinnasberg (1970, Alfred Vohrer) nach einem Roman von Bengta Bischoff spielt in einem Bordell für Frauen, das autoritär von einem „General“ geführt wird; als einer der Prostituierten ein Kind zeugt, wird er durch einen Soziologiestudenten ersetzt, der praktische Studien zum Sexualverhalten anstellen will, sich aber in die Tochter des „Generals“ verliebt; als sich alles zum Glücklichen wendet und das gelbe Haus verkauft wird, stürzt es auf Grund der Bohrungen in einem benachbarten Kohleflöz zusammen.

Reportfilme und Exploitations-Kino

Letzteres Beispiel mag auch verdeutlichen, dass die Explizitheit der Darstellung und die anrüchige Exklusivität der Handlungsorte durchaus ironisch getönt sein kann, als solle der voyeuristisch angeregte Zuschauer durch Lachen entlastet werden. Gleichwohl kommt es zu einer thematischen Vereindeutigung des St.-Pauli-Bildes. Sex + Verbrechen: das Film-St.-Pauli der zweiten Hälfte der 1960er nimmt endgültig die Farbe der „Rotlicht-Meile“ an. Es entsteht eine Art deutschen Exploitation-Kinos, die nun zugänglichen Schauwerte des Sexfilms mit oft rohen Krimi-Plots verbindend, den geografisch so nahen Handlungsort als exotisch-verbotene Insel des Sündigen ausweisend (und ihn zugleich als realen Ort authentifizierend). Das „St. Pauli“, das im Titel vieler Filme auftaucht, wird zum Markenzeichen einer verbotenen Genuss versprechenden Halbwelt. St. Pauli (bzw. seine Amüsierzonen) werden zum Träger eines Images, das sicher auch einem besonderen St.-Pauli-Tourismus Impulse verliehen hat. Exploitation als Geschäft auf Gegenseitigkeit: das Stadtviertel verliert seinen bürgerlichen Anstrich und gewinnt dafür Unterhaltung (und sexuelle Stimulation) wollende Touristen und das Geld, das sie in den Kneipen, Bars, Striptease-Lokalen und Bordellen ausgeben. Die St.-Pauli-Filme als Form des Stadt-Marketing?

1968 gründete der Pressefotograf Günter Zint die Illustrierte St. Pauli Nachrichten, die neben zahlreichen pornografischen Bildern und Kontaktanzeigen auch längere Texte enthielt. Sie wurde für mehrere Jahre dem linken Spektrum zugerechnet, hatte also explizit politische Anliegen; zu den Redakteuren gehörten Henryk M. Broder und Stefan Aust. Die Mischung von Sex und politischer Explizitheit gehörte durchaus zum Erscheinungsbild der linken Publizistik der Zeit (bekannt geblieben ist das Szene-Magazin Konkret, das eine ähnliche Kombination von Themen verfolgte).

Für den St-Pauli-Film spielte die heute eigenartig wirkende Amalgamierung von politischer Freiheit und sexueller Libertinage keine Rolle – wenn ein Fernsehreporter in dem Episodenfilm St. Pauli-Nachrichten – Thema Nr. 1 (1970) von dem Regie- Routinier Franz Marischka vorgibt, über die St. Pauli Nachrichten zu berichten, ist dies nur Vorwand für eine lockere Folge von kleinen Sexgeschichten nach dem Muster der diversen Report-Filme der Zeit.

Die anfangs noch braven Filme wurden bereits Ende der 1960er deutlicher. Eine Kommissarin, die bei der Sittenpolizei auf der Reeperbahn arbeitet, ist die Heldin von Straßenbekanntschaften auf St. Pauli (1968, Werner Klingler); sie soll von einem Nachtclub-Besitzer, der überwiegend minderjährige Frauen beschäftigt und zudem verbotene pornografische Filme zeigt, mit Nacktfotos ihrer 18jährigen Tochter erpresst werden; die junge Frau kann aber den Aufnahmen entkommen, indem sie den Clubbesitzer niederschlägt; ein Polizist tötet ihn, die Spuren deuten auf die junge Frau hin, die mit dem Polizisten zusammen quer durch Hamburg flieht, gesucht von der Polizei und einem Freund des Toten.

Aus der Produktion des Sexfilm-Produzenten Alois Brummer und seines Stamm-Regisseurs Günter Hendel stammt Eros Center Hamburg (1969): Ein amerikanischer Journalist recherchiert für eine Reportage über das Leben und die Liebeskunst im Hamburger Eros-Center, als eine junge Frau ermordet wird; der Held beginnt selbst mit der Aufklärung und gerät an eine Zuhältergang, die unter anderem spezielle Shows mit lesbischen Mädchen organisiert. Der Filme wurde größtenteils in München-Pasing gedreht, nur wenige Außenaufnahmen erinnern noch an das reale St. Pauli.

Es mag die Mischung von visueller Explizitheit und der Episodenhaftigkeit des Erzählens sein, die einen eigenen Reiz der Filme ausgemacht hat. Ein Kapitel des Report-Films Prostitution heute (1970, Ernst Hofbauer) spielt in Hamburg und zeigt eine SM-Show, in der eine Frau ausgepeitscht und mit einem Messer gequält wird; beigegebene Interviews rücken die Nummer in den Horizont einer – allerdings erkennbar sensationalistisch orientierten – Reportage.

Eine ähnliche Episode findet sich auch in der ersten Episode des deutsch-italienischen Billigfilms Inseratenreport (1976, Harry Reisch) – nach einem kurzen Besuch des Fischmarkts folgt die Besichtigung eines Bordells in der Herbertstraße; nach dem Muster der Schlüssellochfilme der Frühzeit werden einzelne Zimmer vorgeführt, in denen sexuelle Praktiken stattfinden, bis hin zu einer Auspeitschung und einer schwarzen Messe; ein Wissenschaftler gibt ein kurzes Statement zur Prostitution ab und maskiert das Ganze als ernstgemeinten Bericht.

Auch Jürgen Rolands St.Pauli-Report (aka: Jürgen Rolands St.-Pauli-Report, 1971) ist als Nummernfolge aufgebaut. Der Film beginnt mit einer wilden Montage von Aufnahmen aus anderen St.-Pauli-Filmen (darunter Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn, 1967, oder sogar Prostitution heute, 1970). Roland, zwischen zahlreichen Filmdosen als Experte drapiert, gibt eine kurze Einführung, was man mit „St. Pauli“ assoziieren könnte. Erst danach beginnt eine Reihe von kleinen Geschichten, die das zu Anfang suggerierte St.-Pauli-Bild unterwandern und konterkarieren; der Fokus bleibt auf die Unterwelt gerichtet, die Darstellung ist vielfach mit dokumentarischen Aufnahmen durchsetzt.

Eine ähnlich multiepisodisch angelegte Geschichte enthält Alfred Weidenmanns Unter den Dächern von St. Pauli (1970), der ein Kaleidoskop von Geschichten erzählt, die sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden ereignen – ein Mann erschießt seine Frau, die als Striptease-Tänzerin arbeitet; ein Gangster kommt zu Tode; Schüler spielen ihrem Lehrer eine Prostituierte zu; ein Vater wird zu größerer Freizügigkeit bekehrt.

Krimis

Eine schon vor den Reeperbahn Movies etablierte Vorstellung fasste den Kiez als kriminogenes Milieu. Es nimmt dann nicht wunder, dass in der Krimi-Komödie Die fidelen Detektive (aka: Zwischen München und St. Pauli, 1957, Hermann Kugelstadt) zwei pensionierte Münchner Polizisten in Hamburg auf Verbrecherjagd gehen. Rolands frühe, an Polizeiberichten geschulte Fernseharbeiten taten ein Übriges, die Assoziation Hamburg – Kriminalität zu stabilisieren.

Die Affinität zum Krimi findet sich sogar in Melodramen wie Der Arzt von St. Pauli (1968, Rolf Olsen), dessen ebenso bärbeißiger wie rechtschaffener Titelheld eine Armenpraxis am Jungfernstieg betreibt; als ein junger Matrose des Mordes verdächtigt wird, stellt er eigene Nachforschungen an, in denen er seinen verbrecherischen Bruder entlarvt, der als Frauenarzt schwangere Patientinnen zur Prostitution erpresst, sie manchmal gar mit Drogen gefügig macht.

Natürlich finden sich Kriminalfilme im engeren Sinne, wobei St. Pauli des Öfteren der Ort ist, an dem das Bürgerliche und das Unterweltliche aufeinander treffen. Zwei Brüder markieren den moralischen Konflikt in Wolfgang Staudtes Drama Fluchtweg St.Pauli: Großalarm für die Davidswache (1971): Der eine ist Bankräuber, der nach seiner Entlassung feststellen muss, dass das Haus, in dem er einst die Beute versteckt hatte, abgerissen ist; der andere ist Taxifahrer; als der Räuber bei einem Einbruch versehentlich eine Frau erschießt, versucht er, den anderen zu erpressen, um ins Ausland fliehen zu können; auf der Flucht zur dänischen Grenze wird er gestellt und entzieht sich durch Selbstmord der erneuten Verhaftung. Der Film wurde ausschließlich on location aufgenommen, nimmt so Impulse aus der Vorzeit der Reeperbahn-Filme wieder auf.

Die Krimihandlung findet sich in allen möglichen Genremischungen wie etwa in dem zwischen Heimatdrama, Gangsterfilm und Komödie changierenden Der Pfarrer von St. Pauli (1970, Rolf Olsen), dessen Titelheld ein ehemaliger U-Boot-Kapitän ist, der in größter Gefahr geschworen hat, Priester zu werden und seitdem normalen Bürgern ebenso wie Ganoven, Prostituierten und Zuhältern hilft und Zuspruch gibt; er muss aber einen Mordfall aufklären, hinter dem das organisierte Verbrechen steckt.

Und auch der Horrorfilmelemente adaptierende Film Perrak (1970, Alfred Vohrer) ist im Kern auf die Versuche des Titelhelden konzentriert, einen Transvestitenmord aufzuklären; seine Recherchen führen ihn nicht nur durch mehrere Bordelle, sondern vor allem zu einem als Freudenhaus umfunktionierten Mädchenpensionat, in dem reiche Einwohner der Stadt verkehren.

Jürgen Rolands Die Engel von St.Pauli (1969) behandelt das Thema aus Sicht des Gangsterfilms: Eine Prostituierte wird auf der Hamburger Reeperbahn niedergestochen und stirbt in den Armen ihres Zuhälters; der Mord führt zum Waffenstillstand zwischen den Hamburger und Wiener Zuhältern, die schließlich – als die Polizei den Täter vergeblich zu ermitteln sucht – die Sache selbst in die Hand nehmen. Auch Rolands Zinksärge für Goldjungen (BRD/Italien 1973) übernimmt Muster des Gangsterfilms, mischt sie aber mit Momenten des Actionsfilms: Er handelt vom Versuch amerikanischer Gangster, unter massivem Waffeneinsatz die Kontrolle über die kriminellen Strukturen der Reeperbahn zu übernehmen; erst als sich der Sohn des deutschen und die Tochter des amerikanischen Gangsterbosses ineinander verlieben, kommt Irritation auf; eine nach Mustern der James-Bond-Filme inszenierte Verfolgungsjagd mit Booten im Hamburger Hafen beendet den Film, der auch international ausgewertet wurde.

Das Auslaufen der Welle

Die Zeit der Faszination einer auf der Exploitierung von Anrüchigkeit, Unbürgerlichkeit und Kriminalität basierenden Welle von B-Filmen endete mit Klaus Lemkes Soziodrama Rocker (1972), Peter Fleischmanns fast surrealistischer Sexfilm-Satire Dorotheas Rache (1974) und Roland Klicks halbdokumentarischem Kriminalfilm Supermarkt (1974).

Ausschließlich mit Laien besetzt, nimmt Rocker Impulse des Kiezfilms und des damals prominenten Rockerfilms auf: Ein sich zunehmend kriminalisierender 14jähriger Lehrling muss zusehen, wie sein väterlicher Freund, ein alternder Rockerführer, zu Tode geprügelt wird; am Ende nimmt der Motorradclub Rache an den Tätern.

Dorotheas Rache erzählt von einer 17jährigen Schülerin, die auf der spätpubertären Suche nach Liebe eine zutiefst frustrierende Wanderung durch das Rotlicht-Milieu antritt, in eine Kommune auf dem Lande zieht und das Prinzip der freien – also nicht kommerzialisierten – Liebe auslebt.

Auch in Supermarkt steht ein 18-Jähriger im Zentrum, der sich in eine Prostituierte verliebt und scheitert; die drastische Realistik des vollständig on location gedrehten Films, seine rüde Sozialkritik ebenso wie die Anklänge an die Erzählweisen eines Großstadt-Film-Noirs wurden seinerzeit als Elemente des neuen deutschen Autorenfilms gelesen. Drei Filme, drei miteinander kaum vereinbare Stilistiken, einander ähnelnde Geschichten und der Kiez als gemeinsamer Handlungsort: Die Zeit der Sex-, Trash-, Exploitation- und Billigfilme ging zu Ende.

Was bleibt

Gleichwohl sind die Filme des Motivkreises bemerkenswert, sie leben als Video- oder DVD-Editionen und als TV-Ausstrahlungen weiter. Bemerkenswert ist die Spannbreite der Machart, vom stilisierten Realismus der frühen Filme Rolands über die marktschreierische Überdeutlichkeit, in der vor allem die Sex-Reportagen den Kiez darstellten (darin der Ästhetik von Aushangfotos nicht unähnlich), bis hin zu den naturalistischen Rollenspielen in Rocker. Jürgen Roland und Ralf Olsen waren sicherlich die stilprägenden Regisseure der kleinen Filmwelle; doch zahlreiche Routiniers des deutschen Kinos wie Alfred Weidenmann, Alfred Vohrer, Franz Marischka und Wolfgang Staudte waren beteiligt (keiner von ihnen stammt aus Hamburg, ihr Engagement war rein kommerziell bedingt).

Eine große Zahl von Schauspielern bietet ein oft chargierendes, oft aber angesichts der Klischeehaftigkeit der Handlungen bemerkenswertes Spiel an, viele kennt man vom Theater und von ganz andersartigen Filmen – von Curd Jürgens, Horst Frank, Erik Schumann oder Horst Tappert über Herbert Fux, Judy Winter oder Erika Pluhar bis zu den wilden Jungen wie Eva Mattes oder Fritz Wepper; dazu rechnen auch Volksschauspieler wie Helga Feddersen und Günter Lüdke (eine vor allem das lokale Publikum vermeinende Besetzungsstrategie, die sich schon in der TV-Serie Hafenpolizei , 1963–66, sowie in dem Sequel Polizeifunk ruft, 1966–70, fand).

Eine Reihe von Kurzauftritten damals prominenter Hamburger Schauspieler unterfütterte vor allem in Rolands Polizeirevier Davidswache über den Realismus des on location gedrehten Films hinaus mit zusätzlichen, nur Hamburger Insidern verständlichen Hinweisen auf den Drehort.

Viele der Gesichter sind aus der späteren Geschichte vor allem des Fernsehfilms nicht wegzudenken. Und auch musikalisch boten die Filme manchmal Erstaunliches, nahmen Strategien des Einsatzes von szenetypischer Rock-, Funk- und Soulmusik vorweg, die im US-Kino erst um 1970 möglich und üblich wurde; im Diskurs der Zeit markierte diese Musik die Lebenssphären eines diffusen „Anderen“, einer radikal antibürgerlichen Welt[1].

St. Pauli ist Handlungsort zahlloser Filme geblieben, war Standort mehrerer Tatort-Kommissare (von Trimmel bis zu Stöver & Brocki) und einer ganzen Reihe von Vorabendserien (von dem immer noch prominenten Großstadtrevier , 1986ff, bis zu der Seifenoper St. Pauli Landungsbrücken, 1979–82, mit Inge Meysel).

Eine Hommage an die klassische Zeit der Reeperbahn-Movies wurde der aufwendig produzierte Fernseh-Sechsteiler Der König von St. Pauli (1998) von Dieter Wedel, der aber bei allen stofflichen Anlehnungen an die Filme zwischen 1965 und 1975 deren rohe Sprödigkeit und die Lüsternheit des Blicks auf die Milieus niemals erreichte, sondern im Hochglanzstil moderner Gangsterfilme glättete.

Gerade wegen der erkennbaren Trashhaftigkeit der Kiezfilme werden sie aber zu sicheren Indikatoren der in ihrer Zeit laufenden gesellschaftlichen Neuverhandlung ihrer sexuellen Thematik und ihrer Kommerzalisierung, Promiskuität, Kriminalität. Es mag fast paradox anmuten, dass die so trivial wirkenden Filme des Motivkomplexes dem (bürgerlichen) Publikum einen eigentlich verbotenen Blick in eine Halb- oder gar Unterwelt gestatteten und damit einer gesellschaftlichen Neubestimmung vor allem des Umgangs mit Sexualität den Weg bereiteten!

Anmerkung

[1] Den Hinweis verdanke ich Dietmar Elflein. Verwiesen sei auf die US-amerikanische Musik-CD St.Pauli Affairs. Red Light Music from German Reeperbahn Movies of the 1960s and 70s (Diggler Records DIG 002, 2001).

Hans Jürgen Wulff ist emeritierter Professor für Medienwissenschaft an der Universität Kiel.