Lass(t) uns zusammen bleiben: Soul in der Nachpostmoderne
von Nadja Geer
8.4.2013

Die Kinder von Apple und Lady Gaga

[leicht überarbeiteter Beitrag aus »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 2, Frühling 2013, S. 22-26]

Die Jugend menschelt. Nach Jahren des konstruktiven Aushaltens eines unterkühlten Zustands des Digitalen zeichnet sich bei den Kindern von Apple und Lady Gaga ein Backlash ab: Das nachpostmoderne Subjekt schaltet nicht nur Facebook ab, um Erfahrungen zu sammeln, sondern investiert auch in Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Beziehungsfragen – statt an der Wall Street, was bekanntlich ohnehin nichts bringt. Frank Oceans gefühlsgeladene Suche nach der »Real Love« kann als emblematischer Sound der New-Heart-Bewegung angesehen werden, die sich in R&B, Soul und Hip-Hop ausbreitet und diesen Musikstilen eine Renaissance beschert, die seit ein paar Monaten von den ausgehungerten Musikmagazinen aufs Herzlichste begrüßt wird.

Kendrick Lamar gehört hierher, ebenso wie Jesse Boykins III und MeLo-X mit ihrem Album »Zulu Guru«. Nicht zu vergessen James Blake. Ja, auch Blake kann als Soul bezeichnet werden, sei es nur wegen seiner Sentimentalität und seiner Liebe zum amerikanischen R&B der 1990er Jahre, die sich in seinen neuartigen und spektakulären R&B-Samplefragmenten zeigt.

In seinem aktuellen Video kooperiert er sogar mit dem HipHop-Star RZA, und wieder fällt ihm nichts Besseres ein, als zu bedauern, dass er seine Freundin nicht vom Fleck weg heiraten kann.

Schon die Pop-Affirmation der 1980er Jahre wurde durch Soul und Romantik mitgetragen: Die Bands der New Romantics überboten sich in ihrem überkandidelten Auftreten, und dass Prince mit seinem genialen Pop-Soul und seinem Queer-Habitus einmal so stilprägend werden würde, ahnte damals auch noch nicht jeder.

Der Romantiker Prince trug sein Rüschenhemd so offen, damit man seinen Herzschmerz besser sah: ein Aufstand des Stils gegen den Normalitätsdruck des mächtigen Mainstream. Geteiltes Land. Oder wie die Zimmermänner sangen: Nichts ist uns geblieben, wir dürfen uns nicht lieben, denn Krieg und Frieden sind zu verschieden.

Obgleich der damals einsetzende Neoliberalismus erst heute so richtig regiert, sind plötzlich Krieg und Frieden (sprich: Macht und Pop) gar nicht mehr so verschieden, sondern lieben sich aufs Innigste. Ausdruck fand das in Barack Obamas Rede nach seiner Wiederwahl: »Egal, ob Du schwarz oder weiß bist, Latino oder Asiate oder Indianer, jung oder alt, reich oder arm, gesund oder behindert, homosexuell oder hetero: Du kannst es hier in Amerika schaffen.« Für eine neue Offenheit gegenüber Queerness, Blackness und Otherness steht jetzt nicht mehr Prince, sondern Mr. President himself, der von den amerikanischen Medien liebevoll »Mr. Tough Love« genannt wird.

Obamas »poetics of presidency« (Sabine Sielke) unterstützen ein Pop-Selbst, das post-racial ist und sich irgendwo zwischen Ethik und Ästhetik eingerichtet hat. Eine Kommentatorin der Berliner »taz« schrieb nach Obamas Wiederwahl sogar, er hätte sich die Milliarden sparen können, die er für die Medienkampagne ausgegeben hat, hätte er schon früher die Fliegerjacke aus dem Film »Top Gun« angezogen.

Diese gezielte Verwendung des »meaning of style« nutzt eine ästhetische Taktik aus der Popkultur – doch auch Pop als Pose, also als ein Konzept, bei dem man seinen Körper trägt wie einen (Kleidungs-)Stil, findet bei Obama Anwendung. Die Pop-Pose, die er perfektioniert hat, hört auf den Namen Soul. Bei Obama ist die politische Rhetorik kein Krieg mehr, auch kein Krieg der Identitäten, sondern Liebe. Eine klassische Soul-Message. Soul steht für Liebe, für alle möglichen Formen der Liebe, für die Liebe Gottes, für die Liebe deiner Frau, deines Mannes, deines gleichgeschlechtlichen Transgenderpartners, für körperliche Liebe. Gleichzeitig ist die Liste derjenigen Songs endlos, die darauf aufbauen, dass du dich selbst lieben und respektieren musst, um von anderen und der Gesellschaft respektiert zu werden. Auch Kendrick Lamar rappte 2012 mal wieder: »What’s love got to do with it if you don’t love yourself.«

Doch Soul stand nie ausschließlich für »Gefühl und Tiefe«, wie im letzten Jahr im »Rolling Stone« zu lesen war, sondern auch immer schon für die stylische Pose (sonst wäre es ja Gospel) und den Überschlag einer (auch) politischen Haltung in den Kommerz. Sophisticated ist der »World Soul« von dem selbsternannten Jesse Boykins III daher nicht wirklich.

 

Auch seinem Kumpel MeLo-X, der »influences from Eminem to Nirvana, from Picasso to Moses« nennt, scheint es nicht um Distinktion zu gehen, vielmehr folgt er wohl dem neuen Pop-Konzept des 21. Jahrhunderts: Integration. Schaut man sich die Bilderflut auf Boykins’ Fashionblog »Love Apparatus. Life & Musical Timeline of Jesse Boykins III ›staying humble within my genius‹« an, dann erkennt man – wenig demütig – einen stilistischen Übermut. Eine Sintflut popkultureller Styles und Posen, alles passt oder wird passend gemacht, indem es vom Model Boykins re-modelt wird, von Jimi Hendrix bis Malcolm X: Hauptsache stylisch, farbenfroh und Engagement symbolisierend.

Das ist es, wofür diese Form des affirmativen Mainstream-Pop angloamerikanischer Prägung steht: für eine groovige Pose des Engagements.

Auf der einen Seite spielt das Bilder‑ und Sounddesign eine große Rolle, über das eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen entsteht, auf der anderen Seite wird aber immer wieder der Gestus des »I’m New Here« (so der beste Titel auf dem Album von Jesse Boykins III und MeLo-X) mit neuer Energie gespeist.

 

Einerseits ist das Irgendwo-neu-Sein eine hinreichende und notwendige Bedingung für Pop als Ideologie: »Routes Not Roots«, nannte das Terre Thaemlitz. Doch auch der Mythos der USA liegt darin begründet, dass sie eine Nation ›in the being‹ sind, wie es im Englischen so schön heißt, und damit als Paradigma für das stehen können, für das auch guter Pop steht: Emergenz. Diese Form des amerikanischen Pop trifft nun mit »Zulu Guru« auf London – die amerikanischen World-Soul-Stars werden durch die BBC gehyped und auf Ninja Tunes veröffentlicht. Popmusiker wie Boykins III und MeLo-X bedienen sich nicht nur direkt aus der verspielten und trickreichen Requisitenkiste der Native Tongues, die Dave Tompkins beschreibt, sondern greifen auch auf europäische Selbstermächtigungsspielchen wie den Dandyismus zurück. »Zulu Guru« steht einfach für alles: Hip-Hop, Jazz, Soul und Dubstep, Afrika, die USA und Europa – doch vor allem steht es für ›global pop‹, dafür, dass ein Konzept gewonnen hat.

Einiges hat sich also verändert, seit Motown in den 1960ern mithalf, das bürgerliche afroamerikanische Subjekt zu etablieren.

 

Der World Soul unserer Zeit will ein bisschen mehr. Analog zu der Tatsache, dass Alben wie »Channel Orange« von Frank Ocean auf Def Jam erscheinen und Def Jam jetzt zu Universal gehört, wurde auch das Konzept Soul universalisiert und verpoppt. Es setzt an, ein größeres Kaliber zu werden: Es transzendiert geografische Grenzen, demoliert die weiße Moderne, dekonstruiert die Heteronormativität und globalisiert die westliche Popkultur, indem es – auch nicht wirklich neu, aber gerade mal wieder hip – das ganzheitliche Naturdenken indigener und afrikanischer Völker kulturalisiert. Ihr glaubt, die Welt sei in der Krise? Nicht doch, schließlich gibt es das globale Romantic Movement. Pop ist nicht nur die erste postchristliche Universalkultur, es ist die erste postchristliche Heilsbotschaft.

Dass damit auch die Figur des Gurus wieder auf der Agenda steht, daran erinnert Flying Lotus. Obgleich oft eher dem Electro zugerechnet, gehört er als Produzent und DJ ebenfalls ins oben beschriebene Feld. FlyLo, wie er von seinen Fans liebevoll genannt wird, vertritt aber eine gänzlich andere Pose. Unter seinem Alias »Captain Murphy« gibt er in dem 35-minütigen Video »Duality« eine satirische Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie man zum erfolgreichen Guru wird.

Das erinnert daran, dass sich einer der berühmtesten Rapper der 1990er Jahre den Künstlernamen Guru zulegte – die Rede ist hier natürlich von Guru von Gang Starr – und Alice Coltrane auf ihrem Album »World Galaxy« dem Guru ihres Mannes mit »Narration on Love by Swami Satchidananda on A Love Supreme« ein musikalisches Denkmal setzte. Der indische Guru stand dort für kosmische Liebe und damit gleichzeitig für eine Form der schwarzen Boheme, den sogenannten Afro-Futurismus, der immer zwischen Jazz, Techno und Avantgarde mäanderte und als Gegenmodell fungieren kann zum bodenständigen, ›normalen‹ Soul, R&B und dem, ja, bildungsbürgerlichen »Conscious Rap« – jene Formen schwarzer Popmusik, deren Orte die Schule, Kirche, die Straße und das Schlafzimmer sind, weniger das Universum und der Kosmos.

Heute nun lässt sich – und dagegen wendet sich Alice Coltranes Großneffe Flying Lotus möglicherweise in seinem Video – im R&B und Soul wie auch in gewisser Weise bei Obama die Figur des Gurus wiederfinden. Der Guru ist ›in‹, läuft gerade dem ›preacher‹ und ›teacher‹ den Rang ab. Wenn Flying Lotus in seinem Video vor allem Aufnahmen aus den 1960ern bis 1980ern mixt, erinnert er an die historische, auch popkulturelle Bedeutung des Gurus. Zugleich untergräbt er diese Figur durch ästhetische Taktiken, die aus der digital hergestellten Kunstfigur Captain Murphy einen Dada-Künstler des 21. Jahrhunderts machen: Da wäre zunächst einmal die Ironie, oder vielleicht sollte man besser sagen, der Sarkasmus, der nicht nur dadurch zustande kommt, dass Murphy einem eine Anleitung zum Guruwerden an die Hand gibt, sondern auch durch Lehrmeinungen über das Gurutum, die so klingen, als gäbe es irgendwo ein Lexikon der Guruwissenschaften: »A practical application of an abstract ideal« heißt es da (es ließe sich spekulieren, ob Murphy damit nicht die Präsidentschaftspoetik lächerlich machen will). Dazu loopt der Captain – dessen Name nicht umsonst an den SciFi-Comichelden Captain Future erinnert – immer wieder die Anweisung: »Planet Earth is about to be recycled. If you want to evacuate you have to leave with us« und entwirft damit eine Lachnummer, die auf einem abgedrehten schwarzen Sun-Ra-Utopismus aufbaut. (Auch hier könnte man wieder deuten, dass er damit den Environmentalists unter den Popfans zeigen will, was er von ihren Weltrettungsdispositiven hält.)

Auf der Bildebene bewirken der Retro-Look und die Montage von Fiktion und Realität einen, wie Walter Benjamin es ausdrückte, »Trick der Evidenz«, der dem Geschriebenen etwas Neues hinzufügt. (Nämlich die illokutionäre Message: alles Quatsch). Diesem eh schon überladenen Schauspiel einer sich selbst feiernden Supersophistication fügt FlyLo jetzt noch einen fulminant-dreckigen Rap hinzu, eine Art Simulation dessen, was gerade als Hardcore im Hip-Hop gilt: So witty und so unvorhersehbar kann der als abgehobener Soundtüftler bekannt gewordene FlyLo rappen, dass die Web-Community lange Zeit dachte, Captain Murphy sei das Alias von Tyler, the Creator, dem Frontmann der »Odd Future Wolf Gang Kill Them All«.

Von verschiedenen Musikmedien wurde dieses Video-Mixtape, dessen Soundmix man inzwischen umsonst als MP3 herunterladen kann, als das beste Hip-Hop-Album des Jahres 2012 bezeichnet. Und das alles, obwohl Flying Lotus mit seinem auf Warp erschienenen Album »Until the Quiet Comes« gerade auch sein Talent als Minimal-Breakbeat-Free-Jazzer unter Beweis gestellt hat! All diese Strategien, so kann man zusammenfassen, haben nur ein Ziel: zu demonstrieren, dass der wahre Guru auf einen Namen hört: Flying Lotus. Diese Pose dient natürlich dazu, den Autor – und um nichts anderes handelt es sich ja – über den Anschein von Genialität den ersten Platz im Olymp einzuräumen. Ihr wollt Gurus sein? Meinetwegen. Ich bin Gott.

Dass Pop die Widersprüchlichkeit eingeschrieben ist, Kultur der Gegenwart und Kritik dieser Kultur der Gegenwart zugleich zu sein, zeigt sich also heute einmal mehr in der Musik der Zeit. Auf der einen Seite menschelt die aktuelle Popmusik und passt sich dem Neohumanismus der Nachpostmoderne an, auf der anderen Seite feiert sie das, was man mit einem Albumtitel von »A Guy Called Gerald« mit dem emblematischen Begriff »Black Secret Technology« bezeichnen – was auch 2013 noch auf die Begriffe ›Subversion‹, ›Sophistication‹ und ›Signifying‹ gebracht werden kann. Während Boykins und MeLo-X in ihrer Pose – und damit sind hier sowohl ihre Musik als auch ihre Attitüde und ihre Ästhetik gemeint – in einem altmodischen Popsprech-Duktus ›affirmativ‹ erscheinen, steht Flying Lotus in Pose und Sound für die Kraft der Negation.

Dabei tritt seine »music as music criticism« (Adam Harper) zweifach in Erscheinung: Erstens, indem er auf dem Album »Until the Quiet Comes« Soul fragmentiert, kondensiert und minimalisiert (womit er eine Intensität schafft, die der »New Aesthetic« als einer Sucht nach Bildern, die das Jetzt einfangen können, eine Art ›ewigen Sound‹ entgegensetzt), und zweitens, indem er in alter Punkmanier und in der Tradition des ›signifying monkeys‹ eine Art Guerilla-Semiotik auffährt, die zu einem Implodieren von Gegenwart führt. Lotus’ im Material zu suchende Ideologiekritik an den USA ist darin begründet, dass sich die Aussage immer wieder durch den Mix verflüchtigt, dass die flüchtige Materialität also selbst zur Kritik wird.

Der fliegende Lotus ist die Nadel im Fleisch einer amerikanischen Wohlfühlwelt, für das in den Medien das Dream-Team Barack und Michelle Obama steht, als eine Art Verdinglichung eines vergangenen Pop-Traums namens Marvin Gaye und Tammi Terrell. Doch ist es nicht in der Tat ein ungeheurer Fortschritt, wenn President Obama bei einem Fundraising-Dinner Al Greens »Let’s Stay Together« singen kann?